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fort. Dieß ist die hohe Stufe von Kunst-Vollendung, die in der innigsten Vereinigung der Melodie und Harmonie noch Niemand als Joh. Seb. Bach erreicht hat.



XI.

Wenn ein Künstler Werke in großer Anzahl geliefert hat, die sämmtlich von der verschiedensten Art sind, die sich von den Werken aller andern Componisten jedes Zeitalters unterscheiden und den höchsten Reichthum der originellesten Gedanken, so wie den lebendigsten, jeden, er sey Kenner oder Nichtkenner, ansprechenden Geist mit einander gemein haben, so ist es wohl keine Frage mehr, ob ein solcher Künstler wirklich ein wahres großes Kunst-Genie gewesen sey, oder nicht. Die fruchtbarste Einbildungskraft, der unerschöpflichste Erfindungsgeist, die feinste und schärfste Beurtheilung in der für jeden Zweck schicklichen Anwendung des aus der Einbildungskraft strömenden Gedankenreichthums, der gebildetste Geschmack, der auch nicht einen einzigen willkührlichen, oder nur dem Geist des Ganzen nicht genug angehörigen Ton ertragen kann, die größte Gewandtheit im zweckmäßigen Gebrauch der feinsten und scharfsinnigsten Kunstmittel, und endlich der höchste Grad von Geschicklichkeit in der Ausführung, lauter Eigenschaften, bey welchen nicht nur eine, sondern alle Kräfte der Seele in ihrer innigsten Vereinigung wirksam seyn müssen; dieß müssen Merkmahle eines wahren Genies seyn, oder es gibt keine, und wenn Jemand diese Merkmahle in den Bachischen Werken nicht finden kann, so kennt er sie entweder nicht, oder nicht genug. Wer sie nicht kennt, kann unmöglich weder über sie, noch über das Genie ihres Urhebers eine Stimme haben, und wer sie nicht genug kennt, der beherzige, daß Kunstwerke, je größer und vollendeter sie sind, desto anhaltenders Studium erfordern, wenn aller Werth erkannt werden soll, der in ihnen liegt. Jener Schmetterlingsgeist, der unaufhörlich von Blume zu Blume flattert, ohne auf irgend einer zu verweilen, kann hier nichts ausrichten.

Aber mit allen den schönen und großen Anlagen, welche Bach von der Natur erhielt, würde er doch der vollendete Künstler nicht geworden seyn, wenn er nicht frühe manche Klippen vermeiden gelernt hätte, woran so viele vielleicht eben so reichlich mit


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Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Hoffmeister & Kühnel, Leipzig 1802, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Forkel_Bach_1802_Seite_65.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)