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aber das Studium dieser Fragmente kann niemals Lektüre der erhaltenen Werke ersetzen. – Wol interessirt an einem Kunstwerke Stil und Form in hohem Masse; wer aber an demselben nicht mindestens in gleichem Masse den Gehalt sehen und aufzeigen will, bringt sich und andere um den schönsten Genuss, um die tiefste Wirkung.

Soll mithin der Spezialisirung der klassischen Altertumswissenschaft auf der Universität der Krieg erklärt werden? Sollen die philologischen Universitätsstudien nur für den nächsten praktischen Zweck, auf Aneignung der für den Gymnasial-Unterricht im Griechischen und Lateinischen erforderlichen Kenntnisse eingerichtet werden? Das mag nach dem Geschmacke manches sein. Ich halte beides für vergeblich und verderblich zugleich. Spezialisirung ist für den Fortschritt der Wissenschaft, der uns ein unantastbares Palladium sein muss, unerlässlich; jede Erweiterung des Gesichtskreises, jede Erhöhung des Zieles, jede Vertiefung der Erkenntnis ist nur durch Spezial-Forschung zu gewinnen. Aber jeder besonnene Forscher kann und der akademische Lehrer soll den Blick wenigstens auf das Ganze gerichtet halten, soll ausserdem dass er ein Mehrer des Reichs seiner Wissenschaft ist, auch ein getreuer Haushalter des von seinen Vorfahren und Genossen erworbenen Besitztumes derselben sein – nicht blos im Interesse seiner eigenen Arbeiten, welchen die Weite des Blickes gewis nur zu Gute kommen wird, sondern auch im Interesse seiner Schüler, um sie vor einseitigem Studiengang zu bewahren und ihnen das für sie geeignetste Arbeitsfeld anzuweisen. Denn gerade die Vielseitigkeit philologischer Tätigkeit erfordert Aufmerksamkeit in der Wahl des Arbeitsfeldes. Wer nicht Verständnis für das Wesen von Glauben und Dichten hat, bleibt besser von der mythologischen Forschung weg, wer nicht poetischen Sinn hat, von der Kritik der Dichter, wer nicht Sprachgefühl hat, von der Grammatik, wer nicht politischen Sinn hat, von verfassungsgeschichtlichen oder staatsrechtlichen Untersuchungen.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_18.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)