Seite:Foerster Klassische Philologie der Gegenwart 17.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Etymologie, höchstens noch mit Formenlehre beschäftigt und Grammatiken nicht aus lebendiger Kenntnis der Litteratur, sondern aus dem Lexikon oder höchstens aus Inschriften schreibt. Die durch solche Spezialisirung dem humanistischen Beruf der Altertumswissenschaft drohende Gefahr aber ist um so grösser, je imponirender die Spezialistik an sich auftritt, je begabter und anziehender als Persönlichkeiten und Lehrer ihre Vertreter sind. Für diese selbst ist die Gefahr gross; grösser aber ist sie für die Hörer und wächst in dem Masse, als diese sich mit Hintenansetzung von allem andern dem von ihrem Lehrer besonders kultivirten Zweige ganz zu eigen geben. So kann es kommen, dass die Adepten solcher Weisheit es nicht für ein Sakrileg halten den Aeschylus, Sophokles oder Homer zum linguistischen Versuchsfelde zu machen; so kann es kommen, dass Jünger, welche mit ihrem Meister auf die alleinseligmachende Kraft der diva critica schwören, auch ohne dass eine sachliche Nötigung vorhanden ist, mit den Schülern Wort-Kritik treiben; so kann es kommen, dass das Studium der alten Geschichte, welche in ihrer wunderbaren Regelmässigkeit und Grossartigkeit in wol gestimmten Seelen einen wahrhaft erhebenden Eindruck zurücklässt, in Quellenkritik oder in Hypothesen über prähistorische Verhältnisse oder in minutiösester Ermittelung eines winzigen Ereignisses aufgeht. Und wie kann jemand, welcher in der Chronologie, im Kalender, in antiquarischem Detail stecken bleibt, sich aber nicht bemüht Sinn für Komposition eines historischen Kunstwerkes, Sinn für Geschichtserzählung und Sprachgefühl sich anzueignen, im Stande sein andre die Schönheit eines Herodot oder Thukydides würdigen zu lehren! Selbst Epigraphik kann das Studium der alten Historiker in keiner Weise ersetzen, und wer der Jugend Inschriften statt historischer Werke bieten wollte, würde ihr Steine statt Brot reichen. – Gewis ist das Schicksal vielfach ungerecht gewesen und hat Werke von grösster Bedeutung untergehen lassen: die Sammlung ihrer Trümmer und Vereinigung zu einem Ganzen ist Pflicht der Wissenschaft;

Empfohlene Zitierweise:
Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_17.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)