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ruhig in seinem φροντιστήριον sitzen und μετεωροσκοπεῖν? Er könnte es nicht, auch wenn er nur Forscher wäre. Nun aber ist er auch, ja in erster Linie Lehrer, Erzieher philologischer Lehrer und hat als solcher die Pflicht den Ursachen jener zum Teil wolgemeinten Klagen nachzuspüren und, wenn er sie nur einigermassen berechtigt findet, auf Mittel zur Abhülfe zu sinnen. Und gerade der Lehrer an einer kleineren Universität scheint zu solcher Prüfung berufen, da er seinen Schülern besonders nahe tritt und auch ihre künftige Entwicklung als Lehrer genau verfolgen kann, besonders wenn er selbst Schulmann gewesen ist und mit seinem Herzen noch an der Schule hängt.

Der Kern jener Klagen lässt sich meiner Meinung nach in derselben Wahrnehmung zusammenfassen, welche Göthe in Bezug auf die klassische Altertumswissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts in einem Briefe an Knebel[1] ausgesprochen hat, dass die klassische Altertumswissenschaft an ihrer Bedeutung als Humanitäts-Studium merkliche Einbusse erfahren hat.

Den ersten und hauptsächlichsten Grund für letzteres aber finde ich in dem Ueberwuchern der Spezialisirung.

Das Reich der klassischen Philologie hat einen solchen Umfang und eine solche Tiefe erreicht, dass es für Einen Menschen fast unmöglich ist dasselbe ganz zu beherrschen. Ein Johann Albert Fabricius konnte noch das ganze Gebiet, wenn auch nicht gleichmässig, umspannen. Selbst ein so umfassender Geist wie Böckh war doch schon vorzugsweis dem Griechentum zugewandt. Und heut sitzen auf den philologischen Lehrstühlen Deutschlands nur sehr wenige Männer, welche ihm an Vielseitigkeit nur nahe kommen. Von der Mehrzahl ist der eine Gräcist, der andere Latinist, der eine Kritiker, der andere Archäolog, der eine Antiquar, der andere Grammatiker, ja unter den letzteren gibt es bereits eine Spezies, welche sich nur mit Lautlehre und


  1. I, 311: „Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humaniora nicht mehr auf das Gemüth dessen, der sie treibt.“
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Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_16.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)