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Auch die eigentliche historische Kritik gelangte zu grösserer Reife. Je schärferem Verhör sie die Zeugen über ein Ereignis aussetzte, um so stärker wurden die Zweifel an dem, was bisher uneingeschränkt gegolten hatte. Je mehr sie sich aber der Schablone entwöhnte und sich zur Individualisirung erzog, um so mehr gewann sie nicht blos Einblick in die Entstehung einer Tradition, sondern auch um so gerechter, aber auch um so behutsamer wurde sie. Sie lernte die Personen und die Einrichtungen trennen und nicht mit den ersteren auch die zweiten preisgeben, sondern durch Anknüpfung an Beglaubigtes, durch Rückschluss vom Sicheren und durch Vergleichung mit andern Völkern schützen.

Aber auch die Urkunden werden vorurteilsfreier und schärfer zugleich geprüft. Wenn auf der einen Seite eine Vergleichung der in die attischen Redner eingelegten Urkunden vielfach zur Zurücknahme der über sie ausgesprochenen Verurteilung oder wenigstens zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen sie geführt hat, so ist deswegen die epigraphische Kritik nicht nachsichtiger geworden. Beweis dafür, wenn es eines solchen bedarf, ist ihr Verhalten sowol gegenüber den von François Lenormant publicirten griechischen Inschriften, als gegenüber auch solchen Inschriften des Pirro Ligorio, welche sich nicht blos in seinen Papieren, sondern auch auf Steinen finden; desgleichen der Umstand, dass die als gefälscht oder verdächtig bezeichneten stadtrömischen Inschriften jetzt einen ganzen Band von 3643 Nummern füllen.

Denselben Fortschritt zu methodischer Strenge weist auch die Archäologie auf. Sie verlangt zunächst genauesten Fundbericht über die Umstände der Auffindung, Fundstelle, Umgebung, Verwitterung, Erhaltung, indem sie an alle dem Anhaltspunkte für die ursprüngliche Aufstellung, Bestimmung, Anordnung eines Werkes zu gewinnen sucht; sodann beschreibt sie sorgfältigst ein Denkmal, indem sie darin die Grundlage der Deutung sieht, und lässt genaueste und schönste Abbildung desselben eine ihrer wichtigsten Aufgaben sein; in solcher Weise veranstaltet sie Kataloge von Sammlungen

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Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_12.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)