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und dem ausgedehnteren im allgemeinen gegenüber den beschränkteren den vorzug geben. Schliesslich aber muss sich der forscher auf sein eigenes urteil verlassen, um zu entscheiden, was am natürlichsten der urform entspricht. In dem kriterium der natürlichkeit steckt unleugbar etwas subjektives, das sich jedoch durch umfassende kenntnisnahme und gründliche vertiefung in das material der volkspoesie einschränken lässt und das mit dem fortschreiten der forschung immer mehr zusammenschrumpfen wird. Hat aber dieses kriterium überhaupt objektive berechtigung? Sind die schöpfungen der volkspoesie ursprünglich natürlich und folgerichtig zusammengesetzt? Die folkloristik hat wie jede andere forschung als axiom die vorstellung annehmen müssen, dass das von ihr bearbeitete material aus vernünftigen konzeptionen hervorgegangen ist; denn wo keine vernunft ist, kann es auch keine wissenschaft geben. Aber es hat sich auch schon mehrfach gezeigt, dass dies axiom auf tatsächlichem boden steht. Ich brauche nur auf Antti Aarnes hervorragende, auch im auslande gewürdigte untersuchung hinzuweisen, der es gelungen ist lange komplizierte märchen fast zug für zug genau zu bestimmen; als resultat hat sich eine zusammenhängende, in sich abgeschlossene und harmonische grundform ergeben. Die ansicht, dass es ursprünglich nur einzelne märchenzüge gegeben habe, die dann in verschiedenen gegenden willkürlich kombiniert und vermischt worden wären, ist durch diese untersuchung absolut hinfällig geworden. Vermischung gibt es in den volksmärchen freilich genug; aber gemischt sind die erzählungen als ganzes oder in ihren teilen. Daher ist auch aussicht vorhanden, dass die forschung das gewirr einmal lösen wird.

Im gegensatz ferner zu der anschauung, die alles in den traditionen und meinungen des volkes erhaltene für primitiv ansieht, behandelt die finnische folkloristische methode ihre stoffe als geschichtliche kulturprodukte, deren heimat und entstehungszeit festgestellt werden können. Dass sich nicht einmal die allgemein umlaufenden volksmärchen in allerprimitivsten verhältnissen gebildet haben, beweisen z. b. die oft in ihnen auftretenden relativ jungen kulturtiere. Während die entstehung der volkspoesie früher so weit wie irgend möglich in graue vorzeit hinaufdatiert wurde, schreitet die moderne forschung

Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_041.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)