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Und mit was für augen betrachtet die moderne wissenschaft das Kalevala? Die forschung hat nachgewiesen, dass die lieder des Kalevalas grösstenteils nicht uralt sind, ja nicht einmal aus heidnischer zeit stammen und dass sie auf alle fälle recht viel neue stoffe enthalten. Und am allerwenigsten dürfen wir an ein altes grosses einheitliches epos denken, vielmehr haben sich die episoden, die die anderen an umfang übertreffen, erst später zu grösseren zyklen zusammengeschlossen. Jenes grosse einheitliche epos, das alle epischen lieder des finnischen volkes von den helden des Kalevalas in sich schliesst, hat es vor dem erscheinen des Kalevalas nicht gegeben, die stoffmasse der dichtung ist zu einem beträchtlichen teil nicht autochthon, sondern es steckt vieles darin, was von anderen völkern empfangen worden ist, namentlich viele mit dem christentum eingewanderte motive, die auch der phantasie des finnischen volkes nahrung gegeben haben. Das Kalevala wird sich als solches nicht zu einer quelle für die darstellung der heidnischen kultur und volksreligion eignen, da es auch ausserordentlich viel neuzeitliches enthält, was die wissenschaftliche forschung erst ausscheiden muss. Das schöne goldene zeitalter des volkslebens, von dem das Kalevala, wie man glaubte, zeugnis ablegte, hat nur in der phantasie existiert, in der sich jede zeit eine schöne, von sorgen freie welt erschaffen kann.

Wie aber, wenn diese auffassung stichhält? Ist sie dann nicht angetan dem Kalevala allen wert und alle bedeutung zu rauben? Ist das Kalevala in diesem fall nicht für die wissenschaft wertlos, und kann es dann zu künstlerischem schaffen begeistern und das nationalgefühl steigern? Beruht dann nicht alles auf einem blossen wahn?

Die forschung jeder einzelnen epoche hat selbstverständlich ihre eigenen auffassungen, und es ist natürlich, dass die phantasie zu ergänzen hat, was die wissenschaft noch nicht festgestellt hat. Es ist möglich, dass die vorstellung von der


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_005.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)