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muss ja glauben, dass ein and dasselbe Recht ihn auf seinem Lebenspfade begleitete, weil er sich keines Zeitpunktes zu erinnern weiss, wo das Recht ein anderes geworden wäre. Nicht Gesetze und Theorieen waren es, durch welche die rechtlichen Verhältnisse geschaffen und umgebildet wurden; das Gewicht der thatsächlich geänderten Zustände war das Bestimmende, es führte unwillkürlich die Aenderungen im Rechte herbei; Gesetz und Theorie kamen gewöhnlich erst hintennach, um das auf dem Boden der Thatsachen Erwachsene in bestimmte Formen zu fassen, häufiger unzweifelhaft den Endpunkt, als den Ausgangspunkt der Entwicklung bezeichnend.

In dieser Verbindung von stätiger und doch unaufhörlich fortschreitender Entwicklung liegt ohne Zweifel die grösste Schwierigkeit für die Behandlung der deutschen Verfassungsgeschichte. Wo nie ein völliger Bruch mit der Vergangenheit durch gewaltsame Umwälzung oder gesetzgeberische Thätigkeit erfolgt, das Spätere überall im Früheren wurzelt, da gibt es auch keine Gränze für das Fortwirken einer einmal in die Darstellung aufgenommenen irrigen Ansicht. Und wieder bringt es die Veränderlichkeit mit sich, dass der Forscher, sei sein Ausgangspunkt auch noch so richtig, gar bald den Boden unter den Füssen verliert, wenn er sich nicht durch ein fortgesetztes genaues Prüfen der Thatsachen überzeugt, dass die für eine frühere Zeit erwiesene Rechtsanschauung sich wirklich in späterer noch als geltend erweist; den einmal entschlüpften Faden wieder aufzugreifen wird ihm oft nur mit grosser Mühe gelingen.

Und noch ein anderes, die Aufgabe sehr erschwerendes Moment tritt hinzu in der grossen Mannichfaltigkeit örtlicher Entwicklung, welche auch im öffentlichen Rechte nicht blos in untergeordneten Kreisen zur Geltung kam, sondern bis zu den höchsten Ordnungen des Reiches hinauf den gewichtigsten Einfluss übte; verwirrender noch, als das Uebersehen des Unterschiedes der Zeit, kann ihre Nichtbeachtung in die Forschung eingreifen. Nichts bedenklicher, als der Schluss, weil der König hier ein Recht übt, steht es ihm auch dort zu, weil dieser Herzog mit fast königlicher Machtvollkommenheit gebietet, kann die Stellung jenes andern nicht blos die eines Ersten unter Gleichen sein. Ist nun aber bei Erörterung solcher Fragen nicht blos der Unterschied der Zeit im Auge zu halten, ist die Untersuchung zugleich vielfach für jede der weiteren und engeren Gliederungen des grossen Reichskörpers besonders zu führen, ist der Schluss von dem Einzelnen auf das Allgemeine nur bei grösster Behutsamkeit zu rechtfertigen, so stellt sich die Erforschung des Gesammtgebietes der Geschichte der Reichsverfassung als eine Aufgabe dar, welche ganz selbstständig zu lösen kaum die Sache eines einzelnen Menschenlebens sein kann. Gebührt denen unser aufrichtigster Dank, welche sich der schwierigen Aufgabe unterzogen, wenigstens die Umrisse des Ganzen nach dem jedesmaligen Stande der

Wissenschaft zu zeichnen und so den Haltpunkt für weitere Ausführung

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Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_042.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)