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Ferne Liebe erweckte: Ingigerd, des Königs Hreggid Tochter, die sich ganz in ihre Locken hüllen konnte, welche wie Gold oder Stroh glänzten. Da sitzt einmal Jarl Thorgnyr von Jütland auf dem Hügel, in dem seine Frau bestattet liegt, und eine Schwalbe fliegt über ihn weg. Sie läßt ein Seidenknäulchen fallen, worin ein einziges Menschenhaar steckt, lang, wie ein Mann hoch, und von eitel Goldglanz. Entzückt schwört der Jarl, er müsse die gewinnen, der dieses Haar gehöre, und sein Rath Biörn erräth sogleich, daß es Ingigerd Hreggid’s Tochter sei.

 Jungfrauen tragen das Haar lose und fliegend, während es Bräuten in ein zopfartiges Geflecht gelegt ward; die Verheiratheten bedeckten den Kopf mit Tuch, Schleier oder Haube. –

 Das Wesentliche war nun aber die hohe ideale Würdigung des Weibes in der gesammten Lebensanschauung der Männer: daraus allein erklärt sich, daß das germanische Weib in den rauhen, ja zum Theil rohen Zuständen der Vorkultur eine so günstige, ja ehrenvolle Stellung einnahm, wie etwa bei viel höherer Civilisation die römische Matrone, und eine viel würdigere, als die hellenischen Hausfrauen zur Zeit der höchsten Kulturblüthe Athens.

 Richtig hat der große Römer, welcher die Urzustände unseres Volks geschildert, die tiefe Bedeutung einer Haupttugend der Germanen erkannt: ihrer Keuschheit, der edeln Reinheit im Verhältniß der Geschlechter. Diese Tugend bewirkte, daß die beiden Gatten in die spät geschlossenen Ehen mit gleich reiner Vergangenheit eintraten, und daß diese Ehen mit einer Kinderzahl gesegnet waren, welche dem gerade in diesen Dingen tief gesunkenen Rom mit vollem Rechte Grauen einflößte. Während kaiserliche Gesetze schon unter Augustus durch allerlei Vermögensvortheile und Vermögensnachtheile die Ehescheu und die Kinderlosigkeit der Römer zu überwinden sich ohne Erfolg bemühten, erwuchsen aus den Ehen des gesunden, einfachen Waldvolkes so zahlreiche Kinder, daß all’ die furchtbaren Lücken, welche das römische Schwert und durch Verpflanzung, Kolonisation, Solddienst die römische Politik in die Reihen der germanischen Heere riß, alsbald nicht nur immer wieder ausgefüllt waren – daß vielmehr die stetig zunehmende Bevölkerung der Germanen zuletzt allen Widerstand der Legionen überwältigen und überfluthen mußte.

 Mit dieser Keuschheit in tiefstem Zusammenhang steht die hohe, ideale Würdigung des Weibes: „etwas Heiliges und Weissagungsvolles erblicken sie in dem Weibe“ sagt Tacitus; sie hören auf ihren Rath, auf ihre Warnung. Näher als die rauheren Männer stehen die Frauen den Göttern, leichter ahnen sie deren Willen und Zukunftsbestimmung. Daher gab es nicht nur neben Priestern Priesterinnen, sondern Zukunft kundige Frauen, die nicht Priesterinnen waren oder doch nicht sein mußten, übten großen Einfluß auch auf die Leitung des Staates, der Kriege mit Rom: so jene Jungfrau Belleda im Land der Brukterer, welche, auf hohem Thurm einsam lebend, den Willen der Götter erkundete und ihrem Volk verkündete: Sieg hatte sie verheißen und Sieg war geschehen, und zum Lohne führte man ihr den gefangenen römischen Feldherrn zu.

Empfohlene Zitierweise:
Felix Dahn: Das Weib im altgermanischen Recht und Leben. Verlag des Deutschen Vereines zur Verbreitung gemeinnütziger Kentnisse in Prag, Prag 1881, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Felix_Dahn_-_Das_Weib_im_altgermanischen_Recht_und_Leben_-_13.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)