Seite:Eine Hütteninspektion mit Hindernissen 6 02.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

über den Rücken hinwegbalanciren, und besonders gemüthlich war dieses Manöver nicht, auch nicht ungefährlich, wie ich in Parenthese hinzufügen will, denn der leichteste Fehltritt konnte verhängnisvoll werden. Bei Tage war die Geschichte übrigens noch unheimlicher, weil man bei Nacht die Gefahr nur zum Theil zu übersehen vermochte; wie prekär die ganze Passage war, das ist uns erst auf dem Rückwege klar geworden und wir haben uns einer gelinden Gänsehaut nicht ganz erwehren können.

Meine endlich doch einmal zu Rathe gezogene Uhr zeigte die achte Stunde und noch war Alles eine weiße Steilwüste, wenn man so sagen darf – keine Spur von einem Mandronhaus. Sieben volle Stunden waren wir mithin unterwegs – würden wir also unser Ziel überhaupt erreichen und wann? Es war bitter kalt geworden; die Finger in den Handschuhen wurden steif und vermochten kaum noch den Pickel zu halten und der Ernst der Lage drückte sich in dem wortlosen Schweigen aus, in dem wir weiter tappten. Niemand hatte mehr Lust zu einer Frage, denn die Antworten klangen unsicher und waren lakonisch. Endlich – es war wieder eine Stunde vergangen – rief Liberio wie elektrisirt aus: „Ecco il baito dei pastori!“ („Da ist die Hütte der Hirten!“) Das war die aus zusammen- und übereinandergewälzten Felstrümmern und großen Steinen bestehende Wetterschutzhütte der Ziegenhirten, die schwarz aus dem Schnee hervorragte; von ihr aus wird auch den zur Salzlecke kommenden Gemsen aufgelauert. Bald darauf trat die von der Einweihungsfeierlichkeit her noch stehende Ehrenpforte gigantisch-gespenstisch aus der Dunkelheit hervor und gleich danach war das Dach der alten, zur Führerherberge degradirten Hütte und das Obergeschoss des neuen Hauses zu erkennen – wir waren am Ziele!

Oder vielmehr – wir waren noch nicht am Ziele. Zwischen uns und der gastlichen Thür, bis hinauf zu drei Vierteln ihrer Höhe, lag ein riesige Schneemauer und da die Thür, wie das anständige Hüttenthüren so an sich haben, nach auswärts schlug, mußte sie erst freigelegt, das heißt es musste zwischen ihr und der Mauer ein so breiter Gang ausgeschaufelt werden, daß die Thür geöffnet werden konnte. Die dazu erforderlichen Schaufeln waren auch vorhanden, aber sie lagen auf dem Boden der fast vollständig im Schnee vergrabenen alten Hütte, und in diese zu gelangen, war durchaus kein Kinderspiel. Ihre Thür zu öffnen, war unmöglich, denn zwischen dieser und der Felswand lag wieder massenhafter Schnee, es gelang aber Amanzio, eines der in tiefen schießschartenähnlichen Luken angebrachten Fenster von außen aufzustoßen und durch die Schießscharte in's Innere zu kriechen. Nachdem er die innen mit einer dichten Eisschicht überzogene eiserne Thür genügend lange mit dem Pickel bearbeitet hatte, ließ sie sich nach innen öffnen; der nachbrechende Schnee wurde beseitigt und nach einiger Arbeit mit den herabgeholten Schaufeln, die von innen und von außen arbeiteten, war der Eingang so weit freigelegt, daß ich meinen Reisegefährten in die Hütte führen konnte.

Es war die höchste Zeit, denn er war am Ende seiner Kräfte. Zähneklappernd brach er auf dem Matratzenlager zusammen und war vorläufig nicht mehr zu sprechen. Ich häufte so lange wollene Decken auf ihn, bis er wie begraben war; sie hingen in hinlänglicher Anzahl auf einer Leine, um vor den Zähnen der Bergmäuse geschützt zu sein, die man – neben den bekannten lästigen „Braunschweigern“, beziehentlich „Schwarzburgern“ – leider auch in den höchstgelegenen Hütten antrifft. Dann machten sich die Führer, von mir nach besten Kräften unterstützt, rüstig an die Freilegung der Hausthür und ich wenigstens (denn Schneeschippen war eine mir neue Thätigkeit) war in Schweiß gebadet, als wir endlich unseren Stollen zwischen Haus und Schneemauer in genügender Breite hergestellt hatten, um die Thür öffnen zu können. Eine Stunde Arbeit hatten wir glücklich hinter uns, denn der Schnee war hart.

Es ging nun sofort in die Küche und als wir hier durch rücksichtsloses Heizen (Holz ist in solchen Höhen kein billiger Artikel) eine leidliche Temperatur hergestellt hatten, holten wir meinen Reisegefährten, der inzwischen ein förmliches Schwitzbad durchgemacht hatte. Es gab dann Erbssuppe mit Schweinsohren und hierauf einen kräftigen Glühwein; solche Quantitäten, wie wir sie in dieser Nacht verschluckt haben, waren nie zuvor über unsere Lippen geflossen, und ich wundere mich noch heute, daß wir ohne schweren Katzenjammer davongekommen sind. Allerdings zünden die Italiener den Glühwein an und lassen den Sprit in blauer Flamme wegbrennen, bevor sie das würzige Getränk serviren.

Die nöthige Bettschwere hatten wir aber doch, als wir uns in unsere frostigen Zimmer zurückzogen, um hier auf guten Steiner'schen Reformbetten einen langen Schlaf zu thun. Als wir uns früh erhoben, um den unterbrochenen Erwärmungsprozeß durch Fluthen heißen Thees fortzusetzen, tobte und heulte und pfiff ein Schneesturm um unser gastliches Haus und da uns nichts trieb, ich ja auch das Haus vom Keller bis zum Dach zu untersuchen hatte, und das Kunstschloß angebracht werden mußte, beschlossen wir, eine zweite Nacht hier oben zu verbringen. Nach Tische hörte auch das wüste Schneetreiben auf, es konnte photographirt werden, und der zweite Abend ward noch viel behaglicher verlebt, als der erste, da es in der Küche nach und nach ganz gemüthlich warm geworden war. Blos ein Skat hätte noch gefehlt, aber auf diese Kunst verstand sich nur mein Freund. Unser Rückmarsch am nächsten Morgen vollzog sich natürlich erheblich rascher, als der nächtliche Anstieg. Der Sturm hatte die Spuren unserer Schneereifen vollständig verweht, dagegen stießen wir immer wieder auf frische Blutstropfen im Neuschnee und auf die zierlichen Fußspuren flüchtiger Gemsen. Von unten herauf krachte ab und zu ein Schuß und das Echo rollte sekundenlang durch das Sarcathal, von den Wänden zurückgeworfen, bis es endlich in der Ferne erstarb: unsere Jäger waren also wieder an der Arbeit.

Die Passage der Brücken war, wie schon gesagt, bei klarem Tageslicht entschieden heikler als bei Nacht und Nebel; wir haben uns im Stillen gestanden, daß viel Glück dazu gehört habe, ohne Zwischenfall hinüber zu kommen und daß wir ohne die Unfähigkeit, die Gefahr, in der wir uns thatsächlich befanden, zu ermessen, vielleicht nicht so „kniefest“ über die bösen Stellen hinweggeturnt sein würden.

Von unseren Jägern in der Casina Bolognini mit herzlicher Freude begrüßt, besichtigten wir zunächst die zwei Gemsen, die zu ihrer Jagdbeute hinzugekommen waren; außerdem hatten sie noch einen weißen Hasen erlegt, das war aber ein so kleiner und so magerer Bursche, daß er ein schlechtes Entgelt dafür war, daß die beiden Collini es unternahmen, den feistesten Bock nach Pinzolo zu tragen, wo er infolge einer Bestellung aus Reichenberg in Böhmen zur Post gegeben werden sollte. Wenn man einen kräftigen Bock, dessen zusammengebundene Vorderfüße vor der Stirn liegen, während die eigentliche Last auf dem Rücken ruht, eine halbe Stunde weit getragen hat, ist man sich hinlänglich klar darüber, nur eine sehr mittelmäßige Befähigung für das Gewerbe eines Facchino (Lastträgers) zu besitzen.

Ich habe das Mittagessen unserer Wirthe (Polenta mit in Oel geschmorten Gemsherzen, -Lebern, -Nieren usw.) getheilt und es ganz annehmbar gefunden; mein Gefährte rümpfte die Nase und hielt sich an die Konserven, worauf er wieder den geliebten Apparat in Thätigkeit setzte und einige ganz leidliche Bilder gewann, zur größten Freude der Jäger. In solchen ungewohnten Lebenslagen ist die Camera allerdings ein treuer und gefälliger nicht blos, sonder auch ein schätzbarer Freund und mein Blick ruht immer gern auf den Bildern, die wir auf dieser abenteuerlichen Bergfahrt gewonnen haben.

Beim Niedersinken der Dämmerung rückten wir mit unserem Gemsbock wieder in Pinzolo ein. Unsere Führer hatten nicht unterlassen, der hülfreichen Madonna vergine in der kleinen Kapelle für den ihnen gewährten Beistand zu danken und das gefiel mir von ihnen; nicht alle Menschen sind erkenntlich, wenn die Gefahr vorüber ist. Sie haben sich auch von mir ein Zeugniß in ihr Führerbuch schreiben lassen, in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände, die diesmal obgewaltet hatten; einen Gang nach der Mandronhütte läßt sich sonst kein Führer attestiren. Wir hielten, ehe wir uns nach unserem Hôtel verfügten, eine kurze Rast im Collini’schen Hause, um den vino nuovo dolce (Neuen süßen Wein – man hat kein kurzes Wort für „Most“) aus Dix, aber der schon nicht mehr dolce war, zu kosten; man muß sich als Stellvertreter des Hüttenwarts auch darum kümmern, was für ein Tropfen im nächsten Jahre den Besuchern der Hütte vorgesetzt werden soll.

Unser alter Haushüter und seine kochkundige Ehehälfte waren seelenfroh, als sie uns heil und gesund wiederkehren sahen. Als wir am Abend des zweiten Tages nicht zurück waren, hatte sich ihrer eine große Angst bemächtigt und sie waren zum Gendarmeriepostenführer gelaufen, damit derselbe eine Rettungsexpedition organisire. Nun, der Mann war vernünftig genug gewesen, sich nicht von dieser Sorge anstecken zu lassen. Als er hörte, daß die beiden Collini bei uns und daß wir bergmäßig ausgerüstet gewesen seien, hatte er gemeint, daß er noch einen Tag warten wolle; es sei ja nichts naheliegender, als daß wir vorgezogen hätten, einen Tag auf Mandron zu rasten, statt im Schneesturm den Rückmarsch anzutreten. Precär bleiben solche Wintertouren natürlich immer, das lehrt der unglückliche Marsch des Fürsten Borghese über Mandron in's Val Camonica, der ein paar Jahre später einem armen Pinzolo-Führer das Leben gekostet und den zweiten für immer zum Krüppel gemacht hat; unser Amanzio war auch dabei, ist aber glücklich davongekommen.

Wie wir uns andern Tags über Madonna di Campiglio erst durch Regen, dann durch schweren Schnee und nachher nochmals durch Regen nach Dimaro hinuntergeschlängelt haben, auf theilweise schrecklichen Wegen, an deren Stelle inzwischen eine schöne Kunststraße getreten ist, davon ließe sich noch allerlei Merkwürdiges und Lustiges erzählen, ebenso von der Postfahrt über Malé und Cles nach der Eisenbahnstation San Michele, die uns durch einen auf einer Inspektionsreise begriffenen, ebenso liebenswürdigen als gesprächigen und landeskundigen Gendarmerie-Rittmeister aus Trient zu einer höchst interessanten und lehrreichen gemacht ward, aber das gehört streng genommen nicht mehr zu der „Hütten-Inspektion mit Hindernissen“, die ich schildern wollte, damit die Touristen, die in der schönen Sommerzeit das Val di Genova hinaufpilgern, um den prachtvollen Absturz des Mandrongletschers zu bewundern, eine Antwort auf die Frage haben, die sich wohl gelegentlich und verlorenerweise in ihnen regt auf die Frage nämlich: „Wie mag es hier oben wohl im Winter aussehen?“ Und Viele sind es doch sicherlich nicht, die aus eigner Erfahrung eine solche Frage, die doch gewiß auch ihre Berechtigung hat, zu beantworten vermögen. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich zur Nacheiferung anspornen möchte, denn so sehr ich die Wintertouren liebe – Jedermann's Sache sind sie entschieden nicht und werden es nie werden. –

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Eine Hütteninspektion mit Hindernissen. Goldhausen, Leipzig 1903, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_H%C3%BCtteninspektion_mit_Hindernissen_6_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)