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Fahrt hatte dadurch viel von dem märchenhaften Zauber eingebüßt, der ihr in klarer Mondnacht eigen ist.

Wir hatten ursprünglich die Absicht gehabt, mit dem Stellwagen nach dem Mendelpass hinauf zu fahren, aber unser Wirth hatte uns gerathen, lieber bis Auer die Eisenbahn zu benutzen und dann von Kaltern aus die Passhöhe auf der alten Straße zu ersteigen, und dieser Vorschlag hatte uns besser gemundet, da unsere Füße Verlangen danach trugen, zunächst einmal wieder „vertreten“ zu werden. So fuhren wir denn am nächsten Morgen in aller Frühe etschabwärts nach Auer, ließen uns neben der Eisenbahnbrücke mit der Fähre übersetzen und wanderten im goldigsten Sonnenscheine, der es fast zu gut mit uns meinte, den Kalterer See entlang nach Kaltern. Man war mitten in der Weinlese und wir begegneten förmlichen kleinen Karawanen mit Ochsengespannen und mächtigen Kürbisflaschen, die sich hinaus in die Weingärten begaben, um dort die reifen Trauben zu schneiden, die den Seewein liefern. Bei der jedenfalls altehrwürdigen Art und Weise, in der die Thiere ins Joch gespannt sind, nahm es uns nicht weiter Wunder, als wir auf eine Gruppe stießen, die sich nicht klar darüber war, wie sie dem armen Öchslein die vollständig abgestreifte Schale wieder auf den blutrothen Stumpf des einen Hornes bringen sollte; dieselbe soll übrigens, wie uns ein bäuerlicher Heilkünstler belehrte, unter Umständen wieder anwachsen; hier aber mochte es an der erfahrenen, sicheren Hand fehlen. Ab und zu war uns auch ein Blick gegönnt in eine Bütte voll halbzerquetschter Trauben, die bereits in's Stadium der Edelfäule gelangt waren; wer diesen Blick zum ersten Male thut, hat einige Mühe, sich gegenwärtig zu halten, dass aus diesem Brei schließlich einmal Wein wird. Das Laub der Reben war fast überall blau; es wird, um die verderbliche Peronospera nicht aufkommen zu lassen, mit einer Kupferlösung angespritzt, und diese wohlthätige Flüssigkeit hinterlässt die unheimliche blaue Färbung. Wer es übrigens noch nicht weiß, dem sei anvertraut, dass es auf die Dauer kaum etwas Ermüdenderes giebt, als einen Gang durch von reifen Trauben strotzende Weingärten; selbst an den riesigsten Trauben hat man sich bald satt gesehen und das Auge sehnt sich nach Abwechselung.

In Kaltern stärkten wir uns im Kühlen durch ein Frühstück und ließen uns dann bei einem uralten Schusterlein die Bergschuhe nageln und an den Hacken mit Krampennägeln versehen; man bekommt das nirgend besser gemacht, als in den Bergen selbst. Des Alten Schwiegertochter bot uns einen Teller mit Trauben an, der Alte beschrieb uns den alten Saumpfad hinauf zum Mendelpaß und so ward uns die Zeit nicht lang, und guten Muths setzten wir uns dann in der Mittagssonne in Bewegung und stiegen bald im Walde steil über grobes Geröll bergan, ohne jeden Zweifel darüber, ob unser Pfad der richtige sei: es hatte ja Alles haarklein gestimmt. Aber wir geriethen immer weiter links, und ich war bereits stutzig geworden, als der Weg plötzlich ganz aufhörte. Wohl kletterten wir noch eine Weile an dem steilen durchnäßten, ja fast kothigen Hange hin, geriethen aber dann an den Rand einer Schlucht, in welcher ein Wasserfall zu Thal stürzte und jenseits dessen eine senkrechte Wand uns entgegen starrte; es wäre also nutzlos gewesen, die Schlucht über die Steine des Wasserfalles zu durchklettern. Der Versuch, in dichtem Unterholz und Gestrüpp weiter aufwärts zu klimmen, erwies sich wegen der zunehmenden Steilheit gleichfalls als unausführbar, und nach langem Widerstreben mußten wir uns zur Umkehr entschließen und versuchten, den verlorenen Pfad wieder zu gewinnen. Das war nicht leicht; überall durch Gestrüpp beengt, wurden wir durch versumpfte Stellen, kleine Schluchten und zu Thal gehende Wasseradern zum Ausweichen gezwungen und direkter Abstieg war überhaupt unmöglich; man musste eine Zickzackbewegung durchzuführen suchen, soweit das thunlich war. Die Geschichte hatte ihre lächerliche Seite, aber auch ihre anstrengende, und als wir den steinigen Pfad wieder erlangt hatten, waren wir eigentlich recht froh und stolperten lachend über's Geröll bergab, um den Anstieg an der richtigen Stelle, also weiter rechts, zu wiederholen; dass es links nicht ging, das war uns ja zur Genüge klar. Auf breiterem Wege, als der anfängliche, stiegen wir rasch hinan; an der hohen Wand gerade vor uns zeichnete sich die weiße Zickzacklinie der Mendelstrasse, die wir unterhalb des Passes schneiden wollten, scharf und unverkennbar ab, und zu unserer Rechten konnten wir sie weit hinab bis zur Landschaft Eppan verfolgen. Leider war es auch mit diesem Wege nichts; er wurde immer schmäler und unkenntlicher, verlor sich in Geröll, das bei Regenwetter augenscheinlich zum Bette eines namenlosen Baches ward, und führte uns zuletzt an einem tiefen Einschnitt, der uns zwar nicht geschreckt haben würde, jenseits dessen aber unnahbare waldige Wände uns entgegen starrten – erst hinter diesen lief die Strasse am Hange hin. Mit mehr Hartnäckigkeit als Einsicht verfolgten wir, an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, einen dritten Weg noch weiter rechts, so lange, bis wir im Wasser patschten, das durch Geröll thalab sickerte und rieselte; hatten wir eine Höhe gewonnen, so blickten wir hinab in ein tiefes, schluchtartiges Waldthal, und jenseits desselben ragten neue Bergkoulissen empor, von denen sich augenscheinlich eine hinter die andere schob und die jedesmal durch einen tiefen Einschnitt voneinander getrennt waren. Die Sonne ging bereits goldig zur Rüste, und Schatten füllten die Thäler, als wir nach diesem dritten vergeblichen Versuch auf eine Frau stießen, welche vom Dorf herauf gekommen war und die Luft mit dem langgezogenen Rufe „Franzele!“ erfüllte und dazwischen Selbstgespräche hielt, welche dem gesuchten Franzele einen ungewöhnlich warmen Empfang zu verbürgen schienen. Der Bube kletterte mit der Ziege, deren gelegentliches Klingeln der einzige Laut in der Waldeinsamkeit war, an dem waldigen Rande links von uns unsichtbar herum und setzte den mütterlichen Lockungen ein beharrliches Schweigen entgegen; wahrscheinlich wünschte er den Moment des Wiedersehens, dem er mit gemischten Empfindungen entgegensah, möglichst hinauszuschieben. Die beiden verirrten Touristen flößten der braven Frau augenscheinlich weit weniger Interesse ein, als der Gedanke, der Bube könnte die Ziege verlassen und diese sich verstiegen haben. Als es uns endlich, indem wir ihr eine tiefgehende Teilnahme für das Schicksal Franzeles und seiner Ziege vorspiegelten, gelungen war, sie zum Reden zu bringen, wies sie uns nach links, also in die Richtung unseres ersten Aufstiegs - da gehe der alte, seit Erbauung der Mendelstrasse halbverlassene Saumpfad hinauf. Solcher Gestalt wie die bekannten Vierfüßler am Berge stehend, beschlossen wir nothgedrungen, nach Kaltern hinabzusteigen und am nächsten Morgen einen Führer bis an die Stelle mitzunehmen, wo der famose Saumpfad seinen Anfang nahm. Daß wir denselben allein nicht fanden, war uns nun zur Gewissheit geworden. Ziemlich beschämt kehrten wir den Bergen, an denen wir uns einen geschlagenen halben Tag abgemüht hatten, ohne an's Ziel zu kommen, den Rücken, schulterten den Pickel und marschirten hinab nach Mitterndorf, das eine Fraktion von Kaltern bildet und wo wir ein Nachtquartier zu finden hofften; erstens hatten wir von hier aus näher und dann liefen wir unten in Kaltern Gefahr, ausgelacht zu werden, wenn wir auch natürlich klug genug gewesen sein würden, das Ganze als eine Rekognoszirung zu bezeichnen; und ausgelacht will Keiner sein, selbst nicht von einer lustigen Kellnerin. Der eigentliche Gasthof war vor Kurzem abgebrannt und ward eben wieder aufgebaut; der zweite Wirth stand mit dem Käppchen auf dem Kopfe vor der Thür, als wir an seinem Hause vorübermarschirten, und sein freundliches Gesicht schien uns einzuladen; als wir auf ihn zusteuerten, nickte er uns wohlwollend zu, als wir aber fragten, ob wir die Nacht über bleiben könnten, schob er das Käppchen zurück, kratzte sich hinterm Ohr und meinte, „ja, Betten hätte er schon, aber bei ihm übernachteten halt bloß Burschen, die einmal eine Nacht von zu Hause sein müßten, aber so Herren, wie wir...“ Wir ließen ihm nicht Zeit, seine Bedenken vollends auszukramen, sondern forderten ihn auf, uns seine Beletage zu zeigen. Über eine leiterähnliche, schmale, steile Treppe ging’s auf den Boden, auf dem Berge von reifen Maiskolben („Türken“ sagt man in ganz Tyrol) aufgethürmt waren, aber die anstoßenden beiden Kämmerchen waren freundlich und sauber und die Betten eher etwas weniger hart, als dies in Tyrol Landesbrauch. Das war Alles, was wir brauchten; lachend forderten wir den Mann auf, uns auch bezüglich der Preise als Burschen zu betrachten, warfen die Rucksäcke ab und fuhren mit dem Kopf in's Waschwasser, um dann unten im Gastzimmer ganz gut zu Abend zu essen. Eines Führers für den nächsten Morgen hatten wir uns schon vorher in der Person eines eisgrauen Greises versichert, der sich erbot, uns bis zur Einmündung des Pfades in die Mendelstraße zu leiten, und als wir früh um fünf Uhr (die Herbstnebel lagen noch im Thale und über dem See) an die Scheune pochten, in der er mit seiner Alten eine Art Kammer bewohnte, war er schon marschfertig. Nun stellte sich denn heraus, daß einige Tage vorher ein schwerer Regenguß den Anfang des Pfades einfach weggerissen und unter Schutt und Geröll begraben hatte, so daß wir, indem wir uns an die in Kaltern gegebene Beschreibung hielten, nothwendig zu weit links gerathen mußten, auf einen Waldarbeiterpfad, der immer weiter links in die zerrissenen Wände führt und dort plötzlich endet. Auf dem richtigen Wege brauchten wir bis zur Paßhöhe trotz bequemster Gangart nicht ein Drittel der Tags zuvor geopferten Zeit und nicht ein Zehntel der aufgewandten Anstrengung. Nachdem wir unseren, von der Last der Jahre gebeugten alten Führer zurückgeschickt und die neue Straße noch mehrmals geschnitten hatten, erreichten wir das trefflich bewirthschaftete Mendelwirthshaus. War’s auch hier nicht so einsam, wie in den Villen, die in der nächsten Nachbarschaft entstanden sind und in denen bereits die Winterschutzläden vor die Fenster gesetzt waren, so waren wir doch die einzigen Gäste auf der Veranda und nahmen unser Frühstück ein, während der nachgerade unvermeidlich gewordene Amateurphotograph neben uns mit seinem Apparat hantirte und die hier sichtbaren Theile der Ortlergruppe und die Presanella auf der Trockenplatte fixierte. Pickel und Rucksäcke zurücklassend, machten wir zunächst, die früchtebeladenen Haselbüsche plündernd, den Waldspaziergang nach dem rechts gelegenen Penegal, einem 1733 Meter hohen, grünen Plateau, das eine prächtige Aussicht auf Bozen, Ueberetsch, die Dolomiten und den Adamello bietet. Hier fanden wir eine kleine Gesellschaft, der es mächtig imponirte, dass wir den Rückweg im Laufschritt antraten und diese Gangart fortsetzten, bis das kurzgeschorene Wiesenland in Unterholz überging. Nachdem wir, fern von dem eigentlichen Table d’hôte-Treiben, zu dem der Stellwagen inzwischen die Gäste gebracht hatte, auf der Veranda getafelt hatten, stellte sich uns unser Führer nach dem links gelegenen Monte Roën vor, ein keines deutschen Wortes mächtiger armer Schneider aus einem der Thalorte, der inzwischen heraufbeordert worden war. Auch diese Tour ist bis zur Romener Alpe ein bequemer Spaziergang, der nicht mehr als zwei Stunden erforderte; ermüdender ist eine weitere Stunde, die durch hohes Haidekraut und Alpenrosengestrüpp hinauf auf's Plateau führt. Es gilt mit einer Höhe von 2053 Metern für eine der herrlichsten Warten der Alpenwelt, denn fast ganz Südtirol liegt mit zahllosen Ortschaften und mit dem Kalterer und den Moutigler Seeen vor den Blicken ausgebreitet und auch die Bergumrahmung ist großartig – der Blick schweift vom Ortler und Rosengarten bis zum Brenner, Groß-Venediger und Großglockner. Die Kürze des Herbsttages gestattete kein längeres Verweilen auf dieser luftigen Warte, und der Abstieg wurde in einem Tempo vorgenommen, das schon auf ebener Straße angreifend gewesen wäre, hier aber auf Wegen, die Geröllrinnen glichen, und denen man nicht immer zur Seite ausweichen konnte, den armen „Unterthanen“ das Härteste zumuthete. Es begann stark zu dämmern, als wir das Dörfchen Amblar erreichten, ein bereits echt italienisches Nest, dessen Abendläuten schon lange tröstlich zu uns heraufgeklungen hatte. Die Mägde am Brunnen konnten uns keine halbwegs genießbare Herberge nachweisen, sondern riethen uns, weiter nach San Romedio zu

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_33_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)