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Eine Bergfahrt in Süd-Tyrol.
Von Rudolf Lavant.

Als ich am 30. September 1895 um Mitternacht auf dem bayerischen Bahnhofe der Vaterstadt mich einstellte, wurde ich nicht bloß von meinem erkorenen Reisegefährten, sondern auch von einigen Bekannten und Freunden erwartet, die der Versuchung nicht hatten widerstehen können, mich auch einmal im Bergkostüm mit Rucksack und Pickel unter die kritische Lupe zu nehmen, und die es natürlich an wohlmeinenden Ermahnungen, nicht zu verwegen im Klettern zu sein, nicht fehlen ließen. Wir konnten dazu wohl lachen. Für mich war es die sechste Bergfahrt, ich hatte also bereits genügende Erfahrungen gesammelt und schon mehrere Hochtouren gemacht, die nicht unter die Rubrik „leicht“ fielen, und was meinen Gefährten anging, so ersetzte er den Mangel an Erfahrung durch seine Eigenschaft als vorzüglicher Turner und durch größere Jugend und Elastizität: einen kräftigeren, gewandteren und kühneren Genossen konnte ich mir nicht wünschen. Ein absoluter Neuling war übrigens auch er nicht; er hatte schon einmal von München aus mit fröhlichen Genossen einen, allerdings kurzen, Ausflug in die Berge gemacht und sehnte sich gerade deshalb danach, einmal unter kundiger Führung den verschneiten Riesen dichter auf den Leib zu rücken.

Eine direkte Kurierzugfahrt von Leipzig nach Bozen ist nur ein „sogenannter“ Genuss, und doch hatten wir keine Zeit zu verlieren und waren darauf angewiesen, die Fahrt möglichst abzukürzen, um volle vierzehn Wandertage herauszuschlagen. Früh ¼ 2 Uhr sagten wir, die wettergeprüften Hüte lustig aus dem Coupéfenster schwenkend, der schon von den frostigen Schauern des Herbstes angewehten Vaterstadt Valet und Abends 8 Uhr schritten wir durch die köstliche, weiche, laue Dunkelheit eines südlichen Abends vom Bozener Bahnhofe unserem Gasthofe zu, den Rucksack auf dem Rücken, den Pickel unterm Arm, und sahen spähend empor zum Himmel, ob er uns wohl einen schönen Tag verheiße. Schon auf dem Brenner hatten allerlei Dünste und Gewölk sich um die Bergspitzen herumgetrieben. Von Franzensfeste abwärts war das noch bedenklicher geworden, und diese abwechslungsreiche

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_33_01.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)