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Sein und Zeit

später als das gemeinschaftliche. Er tut mit und nach, was er andere tun sieht, und wird davon geleitet und getragen. Und das ist ganz in der Ordnung, so lange nichts anderes von ihm verlangt wird. Es bedarf eines Aufrufs zum eigensten und eigentlichsten Sein. Wenn dieser Ruf vernommen und verstanden wird und wenn ihm dann nicht Gehör gegeben wird, dann erst beginnt die Flucht vor dem eigenen Sein und vor der eigenen Verantwortung. Und erst dann wird das Mitsein zu einem uneigentlichen Sein; besser würde man vielleicht noch sagen: zu einem unechten. Das Mitsein als solches ist nicht unecht[1]. Die Person ist ebensosehr zum Gliedsein wie zum Einzelsein berufen; aber um beides auf ihre ganz besondere Weise, vom Innersten her, sein zu können, muß sie erst einmal aus der Gefolgschaft heraustreten, in der sie zunächst lebt und leben muß. Ihr eigenstes Sein bedarf der Vorbereitung durch das Mitsein mit andern, wie es seinerseits für andere führend und fruchtbar sein soll.

Das muß übersehen werden, wenn man die Entwicklung nicht als wesentlichen Zug des menschlichen Seins annehmen will; und man muß von der Entwicklung absehen, wenn man dem Menschen ein von seinem Dasein unterschiedenes Wesen abspricht, dessen zeitliche Entfaltung sein Dasein ist.

Wird anerkannt, daß der Einzelne der tragenden Gemeinschaft bedarf – bis zum Erwachen seines eigensten Seins schlechthin, in gewisser Hinsicht (als der Glieder nämlich) immer – und daß zu einer Gemeinschaft führende Geister gehören, die ihre Lebensformen prägen und bestimmen, so geht es nicht mehr an, das Man als eine Verfallsform des Selbst und als gar nichts anderes zu fassen. Es bezeichnet keine Person im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern eine Mehrheit von Personen, die in einer Gemeinschaft stehen und sich mit ihrem Dasein deren Formen einfügen.

Mit dem Erwachen des Einzelnen zu seinem Eigenleben beginnt seine Verantwortung. Man kann von einer Verantwortung der Gemeinschaft sprechen, die von der der Einzelnen unterschieden ist. Aber sie wird von den Gliedern der Gemeinschaft für sie getragen und zwar in verschiedenem Maße: es tragen alle daran, die


  1. Es gibt wohl Stellen bei Heidegger, die zeigen, daß auch er ein echtes Mitsein kennt und ihm sogar ein großes Gewicht beimißt, aber in der Abgrenzung von Man selbst und eigentlichem Selbst ist es nicht zu seinem Recht gekommen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)