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Martin Heideggers Existentialphilosphie

der Vorschrift getroffen wird. Die dieses oder jenes Buch gelesen haben müssen, sind die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftsschicht innerhalb eines gewissen Kulturkreises: wilde Völkerschaften brauchen es nicht; unsere Bauern, soweit sie noch ihrem Stande gemäß leben und nicht auf Stadtbildung Anspruch erheben, brauchen es auch nicht; aber der gebildete Europäer muß es. Dabei gibt es noch allerhand Abstufungen: manches wird zugleich vom Professor, vom Studenten, von der Dame der Gesellschaft gefordert, anderes ist auf einen Fachkreis beschränkt. Wer bestimmt, was gelesen werden muß? Auch Angehörige derselben Schicht, aber keineswegs alle, die die Forderung für sich als verbindlich anerkennen, sondern eine kleine Auswahl von Tonangebenden. Es ist hier ähnlich wie in einem Staatswesen: es gibt eine Obrigkeit und Untertanen es ist nur nicht rechtlich festgelegt und überhaupt nicht genau bestimmt und abgegrenzt, wer zu den einen und wer zu den anderen gehört. Jedenfalls ist im einen wie im andern Sinn seinsmäßig das Man nichts außerhalb und neben den einzelnen Menschen Existierendes und kein eigentliches Selbst; es bezeichnet eine Gemeinschaft (in einem weiten Sinn des Wortes, in dem es jede Art von Gebilden bezeichnet, die aus einzelnen Menschen als ein sie umschließendes Ganzes erwachsen[1]), sowie die ihr zugehörigen Glieder als solche. Die Tonangebenden gehören der weiteren Gemeinschaft an, bilden aber zugleich unter sich eine engere.

Was kann danach die Flucht in das Man bedeuten? Wer flieht? Wovor und wohin? Der Einzelne flieht – so hörten wir – vor seinem eigensten und eigentlichen Sein, das ein einsames und verantwortliches ist, in die Gemeinschaft, und er ladet seine Verantwortung auf die Gemeinschaft ab, auf die engere oder auf die weitere. Dabei kann von einer Flucht, genau genommen, erst gesprochen werden, wenn der Einzelne einmal zu seinem eigentlichen Sein und zum Bewußtsein seiner Verantwortung erwacht ist.

Das erste Dasein, in dem sich der Mensch – geworfen – befindet, ist ja nicht das einsame, sondern das gemeinschaftliche: das Mitsein. Seinsmäßig ist der Mensch gleich ursprünglich Einzelner und Gemeinschaftswesen, zeitlich aber beginnt sein bewußtes Einzelleben


  1. Die Frage, ob es auch unter- und übermenschliche Gemeinschaften gibt, brauchen wir hier nicht hereinzuziehen.
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Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/96&oldid=- (Version vom 31.7.2018)