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Sein und Zeit

als daß für den Menschen etwas in Anspruch genommen wird, was nach der philosophia perennis Gott allein vorbehalten ist: das Zusammenfallen von Wesen und Sein. Immerhin wird der Mensch nicht schlechthin an die Stelle Gottes gesetzt; unter Dasein ist nicht das Sein schlechthin verstanden, sondern eine besondere Seinsweise, der andere Seinsweisen gegenüber stehen: das Vorhandensein und Zuhandensein, auch noch anderes, was gelegentlich flüchtig angedeutet, aber nicht näher ausgeführt wird. Insofern ist der Mensch aber doch als ein kleiner Gott aufgefaßt, als das menschliche Sein als ein vor allem anderen ausgezeichnetes Sein in Anspruch genommen wird und als das Sein, von dem allein Aufschluß über den Sinn des Seins zu erhoffen ist. Von Gott ist nur gelegentlich in Randbemerkungen und in ausschließender Weise die Rede: das göttliche Sein als etwas, was für die Klärung des Sinnes von Sein überhaupt Bedeutung haben könnte, bleibt völlig ausgeschaltet.

Die Wahl des Namens Dasein für den Menschen wird positiv damit begründet, daß es zu seinem Sein gehöre, da zu sein; d.h. für sich selbst erschlossen zu sein und in einer Welt zu sein, in der er immer auf ein Dort hin ausgerichtet ist. Die negative Begründung ist die, daß die traditionelle und dogmatisch festgelegte Wesensdefinition des Menschen als „aus zwei Substanzen bestehend, aus der seelischen und der körperlichen“[1], die durch den Namen Mensch immer nahegelegt wird, von vornherein ausgeschlossen werden sollte. Daß der Mensch einen Leib hat, wird nicht bestritten, es ist nur nicht weiter davon die Rede. Dagegen läßt die Art, wie von der Seele gesprochen wird, kaum eine andere Bedeutung zu, als daß dies ein Wort sei, hinter dem kein klarer Sinn stünde. Das darf nicht etwa dahin mißverstanden werden, als läge hier eine materialistische Auffassung vor. Im Gegenteil: es ist deutlich ausgesprochen, daß dem Geist (das ist freilich ein Wort, das auch nicht gebraucht werden sollte) ein Vorrang eingeräumt wird[2]. Offenbar soll uns die Analyse des Daseins die Klarheit geben, zu der bisher keine Seelenlehre kommen konnte.

Was bleibt vom Menschen übrig, wenn von Leib und Seele abgesehen, wird? Daß sich noch ein ganzes großes Buch über ihn schreiben


  1. Dz. 295 und 1783.
  2. Vgl. was über die Räumlichkeit des Daseins bei Heidegger, S. 368 (im Vorausgehenden S. 84 f.) gesagt ist.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/91&oldid=- (Version vom 31.7.2018)