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Sein und Zeit

Im Mitsein mit anderen hat das Dasein teil am Geschick der Gemeinschaft. Schicksal und Geschick sind Sein zum Tode. Somit hat alle Geschichte ihr Schwergewicht in der Zukunft, was nur die uneigentliche Geschichtlichkeit verdeckt.

Das innerweltlich Vorhandene ist geschichtlich nicht nur, sofern es in der Welt ist, sondern sofern etwas mit ihm geschieht (was von Naturgeschehen grundverschieden ist). Im uneigentlichen Sinn des alltäglichen Besorgens sammelt sich das zerstreute Dasein sein Leben aus diesem einzelnen Geschehen zusammen. Im eigentlichen Sein der Entschlossenheit lebt es in seinem Schicksal und in der Treue zum eigenen Selbst.

In der wesenhaften Geschichtlichkeit des Daseins ist die Historie existential begründet. Ihr Thema ist, weder das nur einmal Geschehende noch ein darüber schwebendes Allgemeines ..., „sondern die faktisch existent gewesene Möglichkeit“[1]: die Möglichkeiten, die von dem selbst geschichtlich bestimmten Dasein, das Geschichte treibt, wiederholt werden. Nietzsches Dreiteilung in monumentalische, antiquarische und kritische ist eine notwendige, den drei Ekstasen der Zeitlichkeit entsprechende[2].

Das letzte Kapitel will zeigen, welche Bedeutung Zeitlichkeit und Innerzeitlichkeit für den Ursprung des vulgären Zeitbegriffes haben. Vor aller Zeitmessung rechnet das Dasein mit Zeit (die es hat, nicht hat, verliert usw.). Es findet die Zeit zunächst an dem innerweltlich begegnenden Zuhandenen und Vorhandenen und faßt sie selbst als ein Vorhandenes auf. Aus seiner Zeitlichkeit ist die Entstehung des vulgären Zeitbegriffs abzuleiten.

Das alltägliche Besorgen spricht sich immer zeitlich aus als gewärtigendes Dann, behaltendes Damals, gegenwärtigendes Jetzt. Damit datiert es immer ein „Dann, wenn...“, „Damals, als...“, „Jetzt, wo...“

Das unentschlossene Dasein verliert beständig Zeit und hat darum niemals welche. Das entschlossene verliert nie Zeit und hat immer welche. „Denn die Zeitlichkeit der Entschlossenheit hat... den Charakter des Augenblicks... Die dergestalt zeitliche Existenz


  1. a.a.O. S. 395.
  2. Anschließend an die Auseinanderlegung der Geschichtlichkeit wird auf ihren Zusammenhang mit dem Lebenswerk Diltheys und den Ideen des Grafen York hingewiesen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/87&oldid=- (Version vom 31.7.2018)