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Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

sprachüblich zukommen, und dringt durch die Herausstellung eines präzisen Wortsinns allmählich zu den Sachen selbst vor: das ist ein Schritt, der sich notwendig ergibt, weil wir Wortbedeutungen nur präzis abgrenzen können, indem wir uns die Sachen selbst, die mit den Worten gemeint sind, zu klarer anschaulicher Gegebenheit bringen. Die Sachen selbst aber, die durch den Sinn der Worte getroffen werden sollen, sind nicht einzelne Dinge der Erfahrung, sondern wie der Wortsinn selbst etwas Allgemeines: die Idee oder das Wesen der Dinge. Dementsprechend ist die Anschauung, die uns solche Sachen zur Gegebenheit bringt, nicht sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung, sondern ein geistiger Akt eigener Art, den Husserl als Wesensanschauung oder Intuition bezeichnet hat.

Es leuchtet ein, daß ein analoges Verfahren, wie es hier auf ein logisches Problem angewandt wurde, für die Untersuchung der Grundbegriffe aller Wissenschaften sowie für die des täglichen Lebens verwendet werden kann. Die Physik arbeitet mit Begriffen wie Materie, Kraft, Raum, Zeit, aber was der eigentliche Sinn dieser Namen ist, untersucht sie nicht. Die Geschichte handelt von Personen, Völkern, Staaten, Verträgen usw., aber was eine Person, ein Staat, ein Volk usw., ist, das setzt sie als bekannt voraus. All das aber sind Themen für große und schwierige philosophische Untersuchungen, und die phänomenologische Methode hat an ihnen schon ihre Fruchtbarkeit bewiesen und dadurch auf den Betrieb der entsprechenden Wissenschaften einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt: denn wenn das Wesen der Gegenstände, mit denen es eine Wissenschaft zu tun hat, geklärt ist, kann man das Verfahren, das darin geübt wird, nachprüfen, ob es sachentsprechend ist und wirklich darauf ausgeht, das Wesentliche des entsprechenden Gebiets herauszuarbeiten. Besonders von der Psychologie und den Geisteswissenschaften muß man sagen, daß sie unter dem Einfluß der Phänomenologie in den letzten Jahrzehnten eine gründliche Umwandlung erfahren haben.

Nun sind gerade die genannten Wissenschaften solche, die sich mit Lebenswirklichkeiten beschäftigen, mit Dingen, auf die wir im praktischen Leben beständig stoßen und die darum auch dem Nicht-Theoretiker wichtig und interessant sind. Wenn die Phänomenologie einen Weg erschlossen hat, dem Wesen dieser Dinge auf die Spur zu kommen, so mußte sie viel stärker als die vor ihr herrschenden

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)