Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/77

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Sein und Zeit

Da Seinsverständnis etwas zum Dasein Gehöriges ist, gibt es Seinsverständnis nur, wenn es Dasein gibt. Daraus wird gefolgert, daß das Sein selbst, wenn auch nicht das Seiende, vom Dasein abhängig sei. Als Substanz des Menschen aber wird seine Existenz – als Sorge verstanden – in Anspruch genommen.

Wenn Wahrheit und Sein so eng zusammenhängen, wie es die Überlieferung seit Parmenides immer angenommen hat, dann muß auch der ursprüngliche Sinn von Wahrheit aus der Analyse des Daseins zu gewinnen sein. Die gewöhnliche Definition der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus vermöge keine Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen Subjekt und Objekt oder idealem Urteilsgehalt und Sache aufzuweisen, wodurch die Rede von einer Übereinstimmung gerechtfertigt würde. Die Aussage zeigt am Gegenstand etwas auf: es ist derselbe Gegenstand, der oder an dem etwas wahrgenommen und von dem etwas ausgesagt wird. Wahrheit ist gleichbedeutend mit Wahrsein, und das heißt entdeckend sein (αληξμα = Unverborgenheit). Sie kommt also ursprünglich dem Dasein zu. Erst abgeleiteterweise ist sie Entdeckung von innerweltlichem Seienden als Wahrheit zu bezeichnen. Beidem liegt zugrunde das Erschlossensein des Daseins: es ist in der Wahrheit. Zugleich aber – in seinem Verfall – ist es in der Unwahrheit, d.h. verdeckt durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit.

Die Aussage ist zunächst aus Verstehen und Auslegen erwachsendes Aufweisen am Seienden. Als Ausgesagtes aber wird sie Zu- und Vorhandenes, und als solches wird sie zu dem Zu- und Vorhandenen, worüber sie aussagt, in Beziehung gebracht: so kommt es zu der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis (= Urteil) und Seiendem (= res). Die Abwandlung ist daraus zu verstehen, daß alle Wahrheit dem Seienden erst abgerungen werden muß; daß Entdecktheit gegenüber Verdecktheit – als etwas Ungewöhnliches – nach Ausweis verlangt. Die Urteilswahrheit ist also nicht die ursprünglichste, sondern sehr abgeleitet. Im ursprünglichen Sinn ist Wahrheit ein Existential. Als solches ist Wahrheit nur, sofern Dasein ist. Ewige Wahrheiten könnte es nur geben, wenn ein ewiges Dasein wäre, und nur wenn es nachgewiesen wäre, wären sie erwiesen. Andererseits muß Wahrheit sein, sofern sie zum Dasein unaufhebbar gehört. Wir müssen sie voraussetzen, indem wir uns selbst „voraussetzen“, d.h. immer schon als ins Dasein geworfen vorfinden.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/77&oldid=- (Version vom 31.7.2018)