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Sein und Zeit

Zusammenhang herausgelöst und ihm in sich eine Eigenschaft zugesprochen wird, formt sich die Auslegung um zur Aussage. Sie bedeutet ein Dreifaches:

  1. Aufzeigung eines Seienden oder von etwas am Seienden;
  2. Bestimmung des Seienden (Prädikation);
  3. Mitteilung als Mitsehenlassen.

Im Verstehen begründet, zum Sein des Daseins – zu seiner Erschlossenheit und seinem Mitsein – gehörig sind Rede und Hören. Das verstandene Bedeutungsganze in seiner Gliederung wird durch die Rede ausgesprochen. Das Hinausgeredete ist die Sprache (die Rede ihre existentiale Grundlage). Das, worüber geredet wird, ist das Seiende.

Im alltäglichen Dasein des Man ist die Rede verfallen zum Gerede. Hier liegt nicht mehr ein ursprüngliches Sachverständnis vor, sondern beim Reden wie beim Hören ein durchschnittliches Wortverständnis. Es wird nicht das Seiende verstanden, sondern das Geredete als solches.

Ursprüngliche Aneignung von Seiendem ist Sicht: in der Form des ursprünglichen umsichtig-besorgenden Verstehens, des Erkennens oder betrachtenden Verweilens. Wie sich zur Rede das Geredete verhält, so zur Sicht das neugierige Sehen. Neugier ist die Sucht zu sehen, nur um zu sehen, nicht um zu verstehen, unverweilend, aufenthaltlos, zur Zerstreuung führend. Gerede und Neugier hängen eng zusammen: das Gerede bestimmt, was man gelesen und gesehen haben muß. Dazu kommt als drittes Kennzeichen des Verfalles die Zweideutigkeit: daß man nicht mehr weiß, was ursprünglich und was nur uneigentlich verstanden ist. Verfall ist eine Seinsweise, bei der das Dasein weder es selbst, noch bei der Sache, noch mit den andern ist, sondern das alles nur vermeint. „Dieses Nicht-sein muß als die nächste Seinsart des Daseins begriffen werden, in der es sich zumeist hält. Die Verfallenheit des Daseins darf daher auch nicht als Fall aus einem reineren und höheren Urstand aufgefaßt werden“[1].

Die bisherige Untersuchung hat Existentialität und Faktizität als die Seinsverfassung des Daseins bestimmt aufgewiesen. Dabei bezeichnet Existentialität die Eigentümlichkeit des Daseins, daß zu seinem Sein ein Sich-verhalten zu sich selbst gehört, daß es „vor


  1. a.a.O. S. 176.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/75&oldid=- (Version vom 31.7.2018)