Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/68

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die Seelenburg

freies Geschenk Gottes ist. Darum ergibt sich aber auch die Möglichkeit, vom Mittelpunkt der Seele aus zu leben, sich selbst und sein Leben zu gestalten, ohne mystisch begnadet zu sein.

Als über ihre Zuständigkeit hinausgehend betrachtet die Heilige die Erklärung der Tatsache, die sie als solche klar zu sehen glaubt: daß Geist und Seele eins sind und doch wiederum voneinander zu scheiden. Wir suchten Wege zur Lösung dieses Rätsels einmal durch die Scheidung des inhaltlichen Unterschiedes von Geist und (raumfüllendem) Stoff als verschiedenen Gattungen des Seienden (wobei die Seele auf die Seite des Geistes gehört, aber zu den geistigen Gebilden, die als stoffgestaltende Formen zwischen Geist und Stoff vermitteln) und des formalen Seinsunterschiedes von Leib - Seele - Geist, wonach Seele das Verborgene, Ungestaltete, Geist das frei ausströmende, offenbare Leben ist[1].

Sodann fanden wir – diesen Unterscheidungen entsprechend – an der Menschenseele verschiedene Seinsrichtungen: als Form des Leibes gestaltet sie sich in einen ihr fremden Stoff hinein und erleidet dabei die Verdunkelung und Belastung, die die Bindung an massen-beschwerten Stoff (den Stoff im Zustand des Falles) mit sich bringt[2]. Sie gestaltet zugleich sich selbst aus und offenbart sich dabei als persönlich-geistiges Wesen, indem sie in frei-bewußtem Leben ausströmt und sich in das Lichtreich des Geistes erhebt, ohne daß sie aufhörte, verborgener Quell zu sein. Dieser verborgene Quell ist – im Sinne der inhaltlichen Scheidung von Stoff und Geist ein Geistiges, und je tiefer die Seele in ihn hinabsteigt und je mehr sie sich in ihrem Mittelpunkt befestigt, desto freier kann sie über sich emporsteigen und sich aus der Stoffverhaftung lösen: bis zur Durchschneidung des Bandes zwischen Seele und irdischem Leib – wie sie im Tode, in gewisser Weise aber schon in der Ekstase eintritt – und zur Wandlung der lebendigen Seele in einen lebenspendenden Geist.


  1. Vgl. Endliches und Ewiges Sein, Kap. IV, § 3, 20 und § 4, 8; Kap. VII, § 3, 3-4 (Edith Steins Werke, Bd. II, S. 205 ff. und S. 229 f.; S. 342 ff.).
  2. Vgl. Endliches und Ewiges Sein, Kap. IV, § 3, 11 (Edith Steins Werke, Bd. II, S. 179 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)