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Die Seelenburg

und stoffliches Ding aus Atomen, zusammensetzen zu wollen: man hat nicht nur alles Bleibende und Dauernde, die Wirklichkeitsgrundlage der wechselnden Erscheinungen, d.h. des fließenden Lebens, geleugnet, sondern aus dem Fluß des seelischen Lebens selbst Geist, Sinn und Leben ausgeschaltet. Was heißt das anderes als daß man von der Seelenburg nur die Ringmauern stehen ließ, und auch von ihnen nur Trümmer, die von der ursprünglichen Gestalt kaum noch etwas verrieten, da ja ein Leib ohne Seele kein wahrer Leib mehr ist.

Angesichts dieses Trümmerfeldes wird man zu der Frage gedrängt, ob nicht am Ende doch die Pforte des Gebets der einzige Zugang zum Innern der Seele sei. Jene naturwissenschaftliche Psychologie des 19. Jahrhunderts ist zwar heute ihrer grundsätzlichen Auffassung nach überwunden. Die Wiederentdeckung des Geistes und das Bemühen um eine echte Geisteswissenschaft gehört sicher zu den größten Wandlungen, die sich in den letzten Jahrzehnten auf wissenschaftlichem Gebiet vollzogen haben. Und nicht nur die Geistigkeit und Sinnerfülltheit des seelischen Lebens ist wieder zu ihrem Recht gekommen, man hat auch seine Wirklichkeitsgrundlage wiedergefunden, wenn es auch immer noch Psychologen gibt – erstaunlicherweise sogar gläubige Katholiken – die es für unerlaubt halten, in wissenschaftlichen Zusammenhängen von der Seele zu sprechen.

Wenn wir die Bahnbrecher der neuesten Geistes- und Seelenwissenschaft betrachten – ich denke vor allem an Dilthey, Brentano, Husserl und ihre Schülerkreise –, so machen ihre entscheidenden Schriften gewiß nicht den Eindruck, als ob sie religiös bestimmt wären und als ob ihre Verfasser „durch die Pforte des Gebetes eingegangen“ waren. Bedenken wir aber, daß Dilthey mit Fragen der protestantischen Theologie wohlvertraut war, wie z.B. seine Jugendgeschichte Hegels beweist; daß Brentano katholischer Priester war und auch nach seinem Bruch mit der Kirche, ja bis in seine letzten Lebenstage sich eifrig mit Glaubens- und Gottesfragen beschäftigte; daß Husserl als Brentanos Schüler, ohne selbst die Theologie und Philosophie des Mittelalters zu studieren, eine gewisse lebendige Verbindung mit der großen Überlieferung der philosophia perennis hatte, daß er überdies persönlich im Kampf um sein philosophisches Lebenswerk stets vom Bewußtsein einer Sendung getragen war und

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Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/64&oldid=- (Version vom 31.7.2018)