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Darstellung Edith Steins

darauf, daß auch sie ein Bild von uns haben. Und so kommen wir dazu, uns selbst gleichsam von außen zu betrachten. Es mag manches Richtige dabei festgestellt werden, aber wir dringen dabei selten tiefer in uns ein; und es sind mit dieser Erkenntnis viele Fehlerquellen verbunden, die uns verborgen bleiben, solange uns Gott nicht durch eine wahrhafte innere Erschütterung – durch einen Ruf ins Innere – die Binde von den Augen nimmt, die jedem Menschen in besonderem Maße sein eigenes Innere verhüllt.

Ein anderer Antrieb zur Hinwendung auf das eigene Selbst ergibt sich erfahrungsgemäß rein durch das Erstarken des Eigenwesens in der Zeit des Reifens vom Kinde zum Jugendlichen. Die spürbaren Wandlungen im Innern lenken von selbst den Blick darauf hin. Aber mit dem echten und gesunden Verlangen nach Selbsterkenntnis, das die Entdeckung dieser inneren Welt weckt, mischt sich gewöhnlich ein übersteigerter Drang, dieses Selbst zur Geltung zu bringen. Das wird wiederum zu einer Täuschungsquelle, die ein falsches Bild des eigenen Selbst erstehen läßt. Dazu kommt, daß sich zu dieser Zeit längst jene Betrachtung des eigenen Selbst unter dem Bilde, wie es die andern von außen sehen, angebahnt hat, ja selbst eine Formung der Seele von außen her, und zur Verdeckung ihres eigentlichen Wesens beiträgt.

Und denken wir schließlich an die wissenschaftliche Erforschung der inneren Welt, die sich diesem Seinsgebiet wie allen anderen zugewendet hat, so ist es ganz erstaunlich, was vom Reich der Seele übriggeblieben ist, seit die Psychologie in der Neuzeit begonnen hat, sich ganz unabhängig von allen religiösen und theologischen Betrachtungen der Seele ihren Weg zu bahnen: das Ergebnis war im 19. Jahrhundert eine Psychologie ohne Seele. Sowohl das Wesen der Seele als ihre Kräfte wurden als mythologische Begriffe ausgeschaltet, und man wollte sich nur noch mit den psychologischen Phänomenen beschäftigen. Und was waren das für Phänomene?

Die Psychologie der letzten drei Jahrhunderte läßt sich nicht in einem einfachen Bild einheitlich kennzeichnen, denn es hat immer verschiedene Richtungen nebeneinander gegeben. Aber der Hauptstrom, der mit den Bemühungen der englischen Empiristen einsetzte, hat sich doch immer mehr im Sinne eines naturwissenschaftlichen Verfahrens gestaltet und ist schließlich dabei gelandet, alle seelischen Regungen aus einfachen Sinnesempfindungen, wie ein räumliches

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Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/63&oldid=- (Version vom 31.7.2018)