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Die Seelenburg

ist. Der Heiligen ist es rein darum zu tun, die Seelenburg, das Haus Gottes zu zeichnen und deutlich zu machen, was sie selbst erfahren hat: wie der Herr selbst die Seele aus ihrer Verlorenheit an die äußere Welt zurückruft, sie näher und näher an sich zieht, bis er sie schließlich in ihrem eigenen Mittelpunkt mit sich vereinen kann.

Es lag ihr durchaus fern zu erwägen, ob dem Bau der Seele auch abgesehen von der Einwohnung Gottes noch ein Sinn zukomme und ob es vielleicht noch eine andere Pforte gebe als die des Gebets. Beide Fragen müssen wir anscheinend bejahend beantworten. Die Menschenseele hat als Geist und Ebenbild des göttlichen Geistes die Aufgabe, die ganze geschaffene Welt erkennend und liebend aufzunehmen, ihren Beruf darin zu verstehen und entsprechend zu wirken. Dem Stufenbau der geschaffenen Welt entsprechen die Wohnungen der Seele: sie ist von einer verschiedenen Tiefe her zu erfassen. Und wenn die innerste Wohnung dem Herrn der Schöpfung vorbehalten ist, so gilt doch auch, daß nur von der letzten Tiefe der Seele aus, gleichsam vom Mittelpunkt des Schöpfers aus, ein wirklich entsprechendes Bild der Schöpfung zu gewinnen ist: immer noch kein allumfassendes, wie es Gott selbst eigen ist, aber doch ein Bild ohne Verzerrungen. So bleibt durchaus bestehen, was die Heilige so klar gezeigt hat: daß das Eingehen eine schrittweise Annäherung an Gott bedeutet.

Es bedeutet aber zugleich das fortschreitende Erringen einer immer reineren und sachgemäßeren Einstellung zur Welt. Wenn die sündhafte Verstrickung in die Dinge der irdischen Welt zunächst eine vollständige Loslösung von ihnen fordert, um zu Gott gelangen zu können, so ist die Entrückung nicht Ziel, sondern Weg. Das Ende zeigt ja, daß der Seele schließlich ihre ganze natürliche Wirkungskraft wiedergegeben wird, um im Dienst des Herrn arbeiten zu können.

Als Geist und Bild des göttlichen Geistes hat die Seele nicht nur von der äußeren Welt, sondern auch von sich selbst Kenntnis: ihr ganzes geistiges Leben ist bewußt und ermöglicht ihr ein Zurückblicken auf sich selbst, auch ohne daß sie durch die Pforte des Gebetes eingeht. Allerdings ist wohl zu bedenken, auf was für ein Selbst die Seele dann stößt, und das hängt damit zusammen, durch welche andere Pforte sie eingeht. Eine Möglichkeit des Zugangs ins Innere ergibt sich aus dem Verkehr mit anderen Menschen. Die natürliche Erfahrung gibt uns ein Bild von ihnen und führt uns

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)