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Die Seelenburg

was der Wille Gottes ist“[1]. An jener „wonnevollen Vereinigung“ ist das Wertvollste, „daß sie hervorgeht aus derjenigen, von welcher ich jetzt rede, und wir können nicht zu ihr gelangen, wenn nicht die Vereinigung, die in der völligen Hingabe unseres Willens in den göttlichen besteht, eine ganz wahre ist“[2].

Zu dieser Vereinigung des Willens mit dem göttlichen ist „die Aufhebung der Seelenkräfte nicht notwendig“. Aber „sterben muß der Seidenwurm und zwar mehr als dort auf eigene Kosten. Denn dort wird das Sterben durch das neue Leben, welches die Seele gewonnen hat, sehr erleichtert; hier aber, wo sie noch ganz ihr altes Leben hat, muß sie selbst den Wurm ertöten“[3]. Mit dem Willen Gottes ganz vereint, heißt vollkommen sein, und dazu „verlangt der Herr nur zwei Stücke von uns: die Liebe zu Seiner Majestät und die Liebe zum Nächsten. Diese doppelte Liebe also zu üben, müssen wir uns Mühe geben; denn dann, wenn wir hierin vollkommen unsere Pflicht erfüllen, tun wir den Willen Gottes und werden so eins mit ihm sein“[4]. Das sicherste Zeichen für das Vorhandensein der Gottesliebe ist die deutlich erkennbare Nächstenliebe. „Denn der Herr liebt uns so sehr, daß er zur Belohnung der Liebe, die wir zum Nächsten tragen, unserer Liebe zu ihm auf tausendfältige Weise Wachstum verleiht“[5]. Überdies würden wir „bei der Verderbnis unserer Natur ... die Liebe zum Nächsten nie vollkommen üben, wenn sie nicht aus der Liebe Gottes, als aus ihrer Wurzel hervorsproßt“.

So gibt es offenbar zwei Wege zur Vereinigung mit Gott und damit zur Vollkommenheit der Liebe: ein mühsames Emporklimmen durch eigene Anstrengung, freilich mit Gottes Gnadenhilfe, und ein Emporgetragenwerden, das viel eigene Arbeit erspart, dessen Vorbereitung und Auswirkung aber doch an den Willen hohe Anforderung stellt.

Im übrigen ist für die Seelen, die der Herr auf dem mystischen Gnadenweg führt, das Gebet der Vereinigung nur eine Vorbereitung für eine noch höhere Stufe: die geistige Verlobung, die in der sechsten Wohnung stattfindet. Bis dahin „besteht ... zwischen Gott und der Seele nur das Verhältnis wie hinieden zwischen zwei Personen, die sich erst gegenseitig verloben wollen“[6]. Sie suchen einander


  1. a.a.O. S. 123.
  2. a.a.O. S. 124.
  3. a.a.O. S. 125.
  4. a.a.O. S. 127.
  5. a.a.O. S. 129.
  6. a.a.O. S. 133. f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)