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Was ist Phänomenologie?

Um die rein geschichtlichen Tatsachen festzustellen: der Name Phänomenologie ist von Husserl für die philosophische Methode gewählt worden, die er sich in vieljähriger harter Gedankenarbeit errungen hat und die in seinen Logischen Untersuchungen zum ersten Mal in einer weithin wirksamen Form vor die Öffentlichkeit trat. In den Jahren, in denen er an diesem Werk arbeitete – den 12 Jahren, die er als Privatdozent in Halle lebte –, stand er in lebhaftem Verkehr mit Max Scheler, der damals in Jena war. Scheler hat immer Wert darauf gelegt, daß er nicht Husserls Schüler war, sondern selbständig die phänomenologische Methode gefunden habe und nur in dem Ergebnis mit Husserl zusammengetroffen sei. Er hat das sicher in ehrlichster Überzeugung gesagt. Aber wer die beiden Männer kennt – Husserl, der immer so tief in seine eigenen Gedankengänge hineingebohrt ist, daß er gar nicht davon loskommt, schwer von etwas anderem sprechen und noch schwerer fremde Anregungen aufnehmen kann, und Scheler, dessen ganzes Schaffen eigentlich ein impressionistisches war, der von Gehörtem und Gelesenem die stärksten Eindrücke und fruchtbarsten Anregungen empfing und so leicht auffaßte, daß er gar nicht merkte und selbst nicht wußte, woher ihm die Gedanken kamen –, der kann kaum einen Zweifel haben, wie es mit der Priorität steht.

Der Schülerkreis, der sich in Göttingen um Husserl sammelte, nachdem er dorthin berufen war, hat starke Einflüsse auch von Scheler empfangen; und auf diesen Einfluß führt es Husserl zum Teil zurück, daß die meisten seiner Göttinger Schüler ihm in seiner späteren Entwicklung nicht gefolgt sind. In Freiburg ist ihm seit 1918 Heidegger, der in anderer Schule ausgebildet war, nahegetreten, ist von ihm persönlich in die phänomenologische Methode eingeführt worden und beherrscht sie heute mit Meisterschaft; aber in entscheidenden prinzipiellen Fragen – Fragen, auf die beide den größten Wert legen – hat auch er sich von Husserl getrennt. Heidegger hat in den letzten Jahren einen ähnlich starken Einfluß nicht nur in den Kreisen der Fachphilosophen, sondern der geistig stark Bewegten und Empfänglichen überhaupt gewonnen, wie ihn Scheler in der Kriegszeit und Nachkriegszeit hatte.

Wenn man heute van Phänomenologie und von ihrer weltanschaulichen Bedeutung sprechen will, kann man an diesen beiden Männern unmöglich vorbeigehen (mag man sich schon entschließen, die andern

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)