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DIE SEELENBURG

Da ich den Namen Seelenburg im Gedanken an das mystische Hauptwerk unserer heiligen Mutter Teresia von Jesus verwendet habe[1], möchte ich etwas darüber sagen, wie sich meine Ausführungen über den Bau der menschlichen Seele zu jenem Werk verhalten. Die leitende Absicht ist eine ganz verschiedene. In unserem Zusammenhang ist die rein theoretische Aufgabe zu lösen, im Stufenbau des Seienden die Eigentümlichkeit des menschlichen Seins herauszuarbeiten, und dazu gehört die Kennzeichnung der Seele als der Mitte des ganzen leiblich–seelisch–geistigen Gebildes, das wir Mensch nennen. Es ist aber unmöglich, ein treffendes (wenn auch noch so flüchtiges und unzulängliches) Bild der Seele zu geben, ohne auf das zu sprechen zu kommen, was ihr innerstes Leben ausmacht. Die Erfahrungsgrundlage, auf die wir uns dabei zu stützen haben, sind die Zeugnisse großer Mystiker des Gebetslebens; als solches Zeugnis ist die Seelenburg unübertroffen: durch den Reichtum an innerer Erfahrung, über den die heilige Verfasserin verfügte, da sie die höchste Stufe des mystischen Gnadenlebens erreicht hatte; durch ihre ungewöhnliche Fähigkeit, sich über die Vorgänge in ihrem Innern verstandesmäßig Rechenschaft zu geben, fast Unsagbares klar und anschaulich und mit dem Stempel lauterster Wahrhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen; durch die Kraft, die einzelnen Tatsachen in ihrem inneren Zusammenhang zu begreifen und die Darstellung dieses Zusammenhangs zu einem geschlossenen Kunstwerk zu gestalten.


  1. Vgl. Endliches und Ewiges Sein (Edith Steins Werke II), Kap. VII, § 3, 3. Die Zitate aus der Seelenburg werden nach dem IV. Band der alten Pustetschen Ausgabe der Schriften der hl. Teresia gegeben.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)