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Einleitung: Weltanschauung und Philosophie

kann, ist alles Stückwerk, und das Ganze, wenn es nicht nach einem voraus entworfenen Grundriß zusammengefügt wird, ein Mosaik aus unzusammenhängenden Stücken.

So hat sich auch die Philosophie, je mehr sie selbst den Anspruch erhob, als Wissenschaft zu gelten, gegen diese Aufgabe gewehrt. Die säkularisierte Philosophie, die vom Glauben losgelöste, wie sie sich seit der Renaissance außerhalb der Kirche entwickelt hat, mußte, sobald sie einmal an sich selbst Kritik geübt, d.h. sich auf ihre Grenzen und ihr eigentliches Geschäft besonnen hatte – also seit Kant – ihre Aufgabe in etwas ganz anderem sehen: nicht die Ergebnisse der Wissenschaften zu sammeln, sondern die Voraussetzungen der einzelnen Wissenschaften zu prüfen, sie damit auf eine feste Grundlage zu stellen und damit erst eigentlich zu Wissenschaften zu machen. Die kritische Philosophie hat es darum entschieden abgelehnt, eine Weltanschauung zu liefern, und unter ihrer Herrschaft ist dieses Wort überhaupt in Mißkredit gekommen. Danach hätten also Philosophie und Weltanschauung nichts miteinander zu tun und es wäre auch von der Phänomenologie, wenn sie wissenschaftliche Philosophie sein soll, nichts für die Weltanschauung zu erwarten? Das wäre ein voreiliger Schluß.

Einmal wäre es ja möglich, daß die Philosophie nach eigenem Verfahren einen Grundriß entwürfe, in dem die Ergebnisse der Einzelwissenschaften einzubauen wären.

Außerdem müssen wir aber noch einen zweiten Sinn von Weltanschauung in Betracht ziehen: nicht jeder Mensch hat ein geschlossenes Weltbild, aber jeder hat eine bestimmte Art, die Welt anzuschauen: der Landmann sieht sie anders an als der Großstädter, der Praktiker anders als der Theoretiker, der Philosoph anders als der positive Wissenschaftler. Was und wie der Mensch vorwiegend geistig tätig ist, davon wird seine ganze Weltauffassung bestimmt. Darum wird auch die besondere philosophische Richtung, die jemand vertritt, nicht ohne Bedeutung für seine Weltanschauung sein. Der mittelalterliche Philosoph, für den Philosophie und Theologie nahe zusammenhingen, dessen Forschungsgebiet die Gegenstände des Glaubens mitumfaßte, sah auch auf Schritt und Tritt in der Welt die Tatsachen, die auf die Zusammenhänge von Geschöpfen und Schöpfer, Bedingtem und Unbedingtem hinweisen. Der Materialist, der überzeugt ist, daß es keine geistige Realität gibt, bleibt auch

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Edith Stein: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)