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Abschnitt V

korrekt sein, aber sie sind nicht wahrhaft um Gottes willen getan und können auch nicht vor Gott wohlgefällig sein. Und überall wo er nicht durch das Dogma geleitet ist – sei es, daß es einen Spielraum läßt oder daß das innere Leben die Schranken der Disziplin durchbricht –, da wird auch die äußere Übereinstimmung mit Gottes Gebot fehlen. Denn das Kennzeichen der fides und alles dessen, was auf ihr beruht, ist, daß sie sich im gesamten Leben auswirkt. Je fester einer im Glauben steht, desto mehr wird sein Leben bis in die äußersten Konsequenzen hinein vom Glauben durchdrungen und gestaltet, desto mehr Früchte der Liebe werden an ihm sichtbar.

Wir sprachen davon, daß die Dogmen, sofern sie nicht aus der fides selbst schöpfen, Offenbarungswahrheiten ausdrücken. Sie führen darum doch letzten Endes auf die fides zurück, weil ohne sie keine Offenbarung möglich ist. Damit die Offenbarung als solche hingenommen werden kann, muß der Glaube an den, der offenbart, da sein. Hier liegt noch eine Unklarheit. Die wenigsten Offenbarungen sind für uns unmittelbare Offenbarungen Gottes, so scheint es. Seine Gebote werden uns durch den Mund seiner Propheten, durch Mittelspersonen verkündet. An sie müssen wir glauben, wenn wir ihre Worte als Offenbarungen hinnehmen sollen. Was hier erforderlich ist, das ist aber nicht etwa der Glaube an einen Menschen, von dem früher die Rede war. Dieser Glaube reicht nicht aus, um eine Offenbarung zu tragen, d.h. er ist prinzipiell keine Rechtsgrundlage dafür. Echte fides ist erforderlich. Und in der Tat ist der Glaube an Christus fides; an ihn, an einen Propheten oder Heiligen glauben heißt gar nichts anderes als an Gott glauben, als in ihm Gott gegenwärtig spüren. Christus ist die leibhafte Offenbarung Gottes. Erkennen, daß es so ist, das kann man nur, wenn man von der Gottheit in ihm angerührt wird, d.h. eben wenn man an ihn glaubt. Und ebenso: jemanden als einen Heiligen erkennen oder erkennen, daß er ein Heiliger ist, kann man nur, wenn man in ihm den Geist spürt qui locutus est per prophetas.

Der Glaube an den leibhaft gegenwärtigen Gott oder der Glaube an den Geist, der aus den Heiligen spricht, ist dann die Grundlage für den Glauben an ihre Worte. So ist die Situation für die, denen die Mittler leibhaft gegenwärtig sind. Es kann auch sein, daß der Geist unmittelbar aus den Worten zu uns spricht und daß sie uns zu Offenbarungen werden, weil wir an sie unmittelbar glauben.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)