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Die ontische Struktur der Person...

ihm zuteil wird, ein dunkles Wort. Es gibt aber auch hier ein Schauen von Angesicht zu Angesicht, und das ist nicht von dem Mitteilenden unabhängig, sondern sein besonderes Gnadengeschenk, die höchste Stufe der Offenbarung.

Soviel über die Form der Offenbarung. Was ihren Gehalt betrifft, so kann alles und jedes darin eingehen: Aufschlüsse über das Wesen Gottes und sein Reich, Kundgabe des göttlichen Willens, Befehle für den Empfänger der Offenbarung oder für andere, an die er als Bote gesandt wird, auch Aufschlüsse über die irdische Welt. Letztlich trägt jede unmittelbare Erkenntnis den Stempel eines göttlichen Gnadengeschenks. Bei der natürlichen Erkenntnis geht eine freie intellektuelle Tätigkeit voran, aber wenn sie zu einem Ergebnis führt, ist es doch immer, als ob eine unsichtbare Hand den Schleier von einem Geheimnis wegzöge. Alle Wahrheit ist von Gott.

Was durch Offenbarung zugänglich geworden ist, kann – ebenso wie das unmittelbar aus der fides Geschöpfte – in einem Satz ausgesprochen werden. Es wird zum Dogma[1]. Das Dogma ist wiederum ein Satz, der Glauben verlangt. Dieser Glaube ist eine Überzeugung, daß es sich so verhält, wie das Dogma sagt. Von der Überzeugung, die wir früher kennenlernten, unterscheidet sie sich ebenso wie die absolute Gewißheit der fides vom belief. Die dogmatische Überzeugung stützt sich auf die fides wie die rein intellektuelle Überzeugung letztlich auf die der natürlichen Erkenntnis zugrunde liegenden schlichten Akte und nimmt daher ihre Kraft.

Es gibt allerdings ein trügerisches Scheinbild davon. Eine Überzeugung, daß es sich so verhält, wie die Dogmen lehren, die nicht in der fides verankert ist, sondern z.B. im Vertrauen auf die Autorität von Menschen. Man glaubt, weil man es so gelernt hat. So ein Mensch kann dogmenfest sein, ohne gläubig zu sein, d.h. ohne den religiösen Grundakt einmal vollzogen zu haben, geschweige denn, darin zu leben. Er kann im Sinne der Dogmen sein Leben führen, ohne aus dem Glauben zu leben. Seine Werke können durchaus


  1. Was in der Kirche zum Dogma erhoben wird, ist eine Auswahl aus dem, was in diesem Sinne mögliches Dogma ist. Es kann darum sehr wohl innerhalb einer Kirche die Anzahl der Dogmen im Laufe der Zeit vermehrt werden. Und es ist auch möglich, daß von verschiedenen Kirchen jede einen andern Bestand von wahren Dogmen hat. Natürlich betrifft das nur Dogmen, die sich gegenseitig nicht tangieren.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/194&oldid=- (Version vom 31.7.2018)