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Abschnitt III

sondern die des ursprünglichen Richters. Im Falle einer positiv-rechtlichen Schuld ist der ursprünglich zuständige Richter der für das betreffende positive Recht verantwortliche Staat. Er selbst und in der Folge die von ihm eingesetzten stellvertretenden Richter stehen in ihrem (subjektiven) Recht zu strafen unter dem von eben diesem Staat gesetzten positiven Recht.

Die dargelegten formalen Verhältnisse bleiben mit gewissen Vorzeichenänderungen bestehen, wenn wir für Schuld und Strafe, Verdienst und Lohn einsetzen. Wie ich mich erbieten kann, für einen Schuldigen die Strafe zu erleiden, seine Schuld gleichsam auf mich zu nehmen, so kann ich meine Verdienste einem andern einräumen und zu erlangen suchen, daß ihm der den Verdiensten gebührende Lohn zuteil werde. Ich kann fernerhin jemanden, der im Besitz von Verdiensten ist, dazu bringen, daß er mir etwas von seinen Verdiensten einräumt. Und wiederum ist es möglich, daß der höchste Richter von sich aus mich belohnt für etwas, was ein anderer getan hat oder einen anderen an meiner Stelle.

Diese Verhältnisse nun spielen hinein in die Zusammenhänge der allgemeinen Stellvertretung vor Gott, die uns beschäftigte. Durch Gott wohlgefällige Werke erwirkt man sich Verdienste, denen als Lohn die Gnade gebührt. Der Heilige, der aus der Fülle der Liebe heraus gute Werke getan und sich einen Schatz im Himmel gesammelt hat, kann aus seinem Überfluß andern mitteilen, d.h. auf Grund seiner Verdienste[1] die Gnade für sie erflehen, und es ist sinnvoll, ihn darum anzugehen. Auf der andern Seite gebührt jedem, der vor Gott gesündigt, eine Schuld gegen Gott auf sich geladen hat, als Strafe Gottes Zorn, die Entziehung seiner Gnade. Es ist schon Gnade, wenn er statt dessen anderes Leid schickt, auf dessen Grunde man ihn immer wieder finden kann. Wie man seine Verdienste einem andern aufopfern, für ihn vor dem Thron des Richters niederlegen kann, so ist es auch möglich, die Schuld eines andern auf sich zu nehmen, d.h. sich als den anzubieten, den die Strafe treffen soll.

Es ist dabei zu beachten: verdienstvoll ist nur, was nicht um des Lohnes willen geschieht. Man kann mit Gott keine Geschäfte machen, weder für sich, noch für einen andern. Gott wohlgefällig kann Gott nur sein, was um seinetwillen geschieht. Und was ihm wohlgefällig


  1. Wie das zu verstehen ist, siehe im Vorhergehenden.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)