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Abschnitt III

Dieses mit dem Leiden verbundene Durchschauen seines Sinnes ist kein freier Akt, dessen Vollzug ich einem andern übertragen kann. Es gibt sodann ein Verhalten dem zugefügten Leid gegenüber: ein Sich-auflehnen dagegen oder ein Es-auf-sich-nehmen, es willig erleiden, in unserm Falle als Strafe willig erleiden. Dieses Verhalten ist frei, und bei ihm ist eine Vertretung möglich. Damit dies Vertretungsverhältnis Zustandekommen kann, muß der Vertreter die Vertretung in einem freien Akt übernehmen. Er muß sich bereit erklären, die Strafe für den andern zu erleiden. Aber das genügt nicht. Der Richter muß die Stellvertretung genehmigen.

Es ist die Frage, ob auch die Mitwirkung des Schuldigen erforderlich ist. Möglich ist sie jedenfalls. Er kann seine Zustimmung geben. Es kann auch die Initiative bei ihm liegen: wenn erst auf seine Bitte hin der andere die Vertretung übernimmt. In dieser Bitte ist dann die Zustimmung impliziert, und sie brauchte, auch wenn sie prinzipiell zum Zustandekommen einer Vertretung erforderlich wäre, nicht noch nach der Übernahme seitens des andern ausdrücklich ausgesprochen zu werden. Indessen ist diese Zustimmung prinzipiell nicht notwendig. Wenn der Richter bereit ist, den Vertreter als solchen anzunehmen und über ihn die Strafe verhängt hat, so ist die Schuld durchstrichen und der Schuldige ihrer ledig, auch wenn er selbst mit diesem Verfahren nicht einverstanden ist. Er mag sich weiter schuldig fühlen, aus diesem Gefühl heraus freiwillig Leid auf sich nehmen und damit Buße tun – mit seiner Bestrafung hat das nichts zu tun, und er kann sie nicht mehr für sich einfordern.

Das Gleiche gilt auch für den Vertreter. Es ist möglich, daß er sich, wie wir es bisher annahmen, selbst zum stellvertretenden Erleiden der Strafe anbietet, mit oder ohne Einverständnis des Schuldigen. Es kann aber auch sein, daß der Richter ihn von sich aus als Vertreter erwählt und ihn anstelle des Schuldigen leiden läßt, ohne sein Anerbieten oder auch nur seine Zustimmung abzuwarten. Gott kann die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern, d.h. die Prinzipien des reinen Rechts haben nichts dawider. Notwendig gehört nur dazu, daß dem Vertreter der Sinn des Leids als über ihn als Stellvertreter verhängter Strafe prinzipiell zugänglich ist. Daß es faktisch zu dieser Einsicht kommt, ist nicht erforderlich. Dem Leidenden kann es rätselhaft bleiben, warum ihn dieses Leid getroffen hat, ja er braucht die Frage nach dem Warum nicht einmal

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/165&oldid=- (Version vom 31.7.2018)