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Abschnitt III

wahre Schicksalsgemeinschaft begründet. Er ist für sein Heil verantwortlich, weil es nicht ohne seine Mitwirkung zu gewinnen ist, und kein anderer kann ihm diese Verantwortung abnehmen. Und zugleich ist er für das Heil aller andern verantwortlich und alle andern für das seine, und auch die Verantwortung kann er keinem andern abnehmen und kein anderer ihm.

Es ist im strengen Sinne des Wortes nicht richtig, von einer gemeinschaftlichen Verantwortung zu sprechen. Denn freie Akte sind etwas, was jede Person für sich vollziehen muß und nicht in der Weise mit andern gemeinschaftlich vollziehen kann wie z.B. Stellungnahmen. Und so trägt auch jeder seine Verantwortung, die für sich und die für alle andern, ganz allein. Und doch ist diese wechselseitige Verantwortung im höchsten Maße gemeinschaftbildend, mehr als alle Erlebnisse, die im echten Sinne gemeinschaftliche sein können. Auf ihr beruht die Kirche.

Innerhalb der bestehenden Kirche gibt es Gemeinschaftserlebnisse verschiedenster Art: Andacht, Begeisterung, Werke der Barmherzigkeit usw., aber nicht ihnen verdankt die Kirche ihr Bestehen. Sondern dadurch, daß der einzelne vor Gott steht, vermöge des Gegeneinander und Zueinander von göttlicher und menschlicher Freiheit, ist ihm die Kraft gegeben, für alle da zu stehen, und dieses Einer für alle und alle für einen macht die Kirche aus. Daß sie sich auf Grund dieses absoluten Aneinandergewiesenseins zu aktuellen Lebensgemeinschaften zusammenfinden, ist sekundär. Je mehr einer von der göttlichen Liebe erfüllt ist, desto mehr ist er geeignet, die für jeden prinzipiell mögliche Stellvertretung faktisch zu leisten. Denn der freie Akt des Gebets ist echt und wirkungskräftig nur, soweit er auf Liebe gegründet ist, auf Liebe zu Gott, wenn es sich lediglich um den Verkehr der einzelnen Seele mit Gott handelt; im Falle der Fürbitte für einen andern aber außerdem auf der Liebe zu diesem andern, d.h. auf der Liebe des Nächsten in Gott, mit der das Streben nach seinem Heil notwendig verbunden ist. Wo diese lebendige, zur Aktivität treibende Liebe fehlt, da ist der freie Akt nicht faktisch ausgeschlossen, aber er ist dann nur ein Schattenbild des echten heilkräftigen Gebets.

Christus, in dem allein die ganze Fülle der göttlichen Liebe eine leibhaftige Stätte gefunden hat, ist darum faktisch der einzige Stellvertreter aller vor Gott und das wahre Haupt der Gemeinde, das

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)