Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/162

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die ontische Struktur der Person...

sofern es durch Mitwirkung seiner Freiheit und nicht ohne sie erwirkt werden kann. Und jeder ist zugleich für das Heil aller andern verantwortlich, sofern er die Möglichkeit hat, durch sein Gebet für jeden andern die Gnade zu erflehen. Durch sein Gebet, das seine freie Tat ist. Denn in der Sphäre der Freiheit ist die Verantwortung verankert. Für die natürliche Beschaffenheit seiner Seele ist der Mensch nicht verantwortlich. Sie kann mit einem Makel behaftet, sie kann negativ-wertig, verworfen sein. Aber das ist nicht ihre Schuld. Denn Schuld ist etwas, was nur durch freie Akte in der Welt erzeugt werden kann. Wenn durch die freie Tat einer Person ein negativ-wertiger Sachverhalt in der Welt realisiert worden ist, dann ist eben damit eine Schuld entstanden. Die Schuld verlangt nach Strafe, und die Strafe ist ihrem materialen Gehalt nach ein Leid, das über den Schuldigen verhängt wird. Verantwortlichkeit bezeichnet die Fähigkeit, Urheber einer Schuld und damit Objekt der ihr gebührenden Strafe zu sein. Sie ist mit der Freiheit ohne weiteres gegeben.

Das positive Gegenbild von Schuld und Strafe sind Verdienst und Lohn. Auch das Verdienst wird durch einen freien Akt, die Realisierung eines positiv-wertigen Sachverhalts, in die Welt gesetzt, und der Lohn, der ihm gebührt, ist seinem materialen Gehalt nach ein Glück, das dem zuteil wird, der sich das Verdienst erworben hat. Die Verantwortlichkeit ist auf die mögliche Urheberschaft von Verdiensten auszudehnen. So wenig für schlechte Anlagen dem Menschen eine Schuld zuzusprechen ist, so wenig sind gute Gaben sein Verdienst. Er ist weder für das eine noch für das andere verantwortlich. Und ebensowenig für das, was die Gnade ohne sein Zutun in seiner Seele wirkt. Dagegen ist er verantwortlich für alles, was man gegen schlechte Anlagen tun kann, und für die Erlangung des Heils, soweit sie im Bereich seiner Freiheit liegt. Jeder Akt, durch den er der Gnade entgegenwirkt, und jede Unterlassung von Akten, die zur Erlangung des Heils notwendig oder möglich sind, kommt auf sein Schuldkonto. Und ebenso alles, wodurch er dem Heil anderer entgegenwirkt, und alles was er für das Heil anderer zu tun unterläßt.

Es ist höchst merkwürdig, wie gerade das, was den Menschen ganz isoliert und ganz auf sich selbst stellt – und das tut die Freiheit –, ihn zugleich unlösbar an alle andern kettet und eine

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/162&oldid=- (Version vom 31.7.2018)