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Abschnitt II

auf den Weg machen, um die Gnade zu suchen, die von sich aus nicht zu ihm kam. Den Akt der Hingabe kann er noch nicht vollziehen. Der ist nur auf Grund der vorbereitenden Gnade möglich. Aber sich von sich selbst lossagen und sich der Gnade zukehren, das kann er. Wenn ihn dann die Gnade anrührt, so bedarf es keines ausdrücklichen Aktes der Hingabe mehr: sie strömt dann in die ihr schon zuvor geöffnete Seele ungehemmt ein und nimmt sie ohne weiteres in Besitz. (Wer auf diesem Wege der Gnade teilhaftig wird – wie Luther –, dessen Blick kann sich sehr begreiflicherweise die Mitwirkung der Freiheit ganz entziehen.) Zuvor aber lebt er ganz in der Angst. Er entflieht nicht nach der Peripherie, sondern hält standhaft bei sich selbst aus, in seiner Seele gesammelt, wenn es darin auch öde und trostlos ist. Er kann in konzentrierter Erwartung nur ruhig dessen harren, was kommen soll. Er kann ihm auch entgegengehen: durch Beschäftigung mit Gegenständen, die ihm als heilig bekannt sind, wenn auch der Geist der Höhe, der sie erfüllt, ihm noch nicht fühlbar und darum die Heiligkeit ihm nicht sichtbar ist, hoffend, daß irgendwann der Funke in ihn einspringt und in ihm zündet, der ihm die Augen öffnet und ihm den Eintritt in das Reich des Lichts ermöglicht. Einer Wüstenwanderung gleicht dieser Weg. Wann sie zum Ziele führt, das steht dahin. Ein ganzes Menschenleben kann davon erfüllt sein.

Auch die Hingabe an die vorbereitende Gnade ist nicht notwendig ein einziger Akt und das Werk eines Augenblicks. Vielmehr bedarf auch der Mensch, in dem die Gnade wirkt und der sich ihr zuwendet, faktisch eines lebenslangen Kampfes, um sich fortschreitend von der natürlichen Welt und von sich selbst loszulösen. Die absolute Freiheit und das restlose Eingehen ins Reich der Gnade sind auf beiden Wegen das Ziel, das doch weder auf dem einen noch auf dem andern im irdischen Leben vollkommen erreicht wird. Es wird nur in der unvollkommenen Annäherung sichtbar als das, worauf es ankommt. Außerdem sind beide Wege in Wirklichkeit nicht so getrennt, wie wir sie in der theoretischen Betrachtung trennen können und müssen. Auch der Heilige kennt Zeiten der inneren Trockenheit, in denen er in den Wüsten ausharren muß, – ja gerade er kennt sie, weil sie sich ihm abheben von den Zeiten, in denen ihn das Licht der Gnade überströmt und das Feuer des Geistes ihn durchglüht.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/157&oldid=- (Version vom 31.7.2018)