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Abschnitt II

pflegt es nicht zu sein, die zum Heile führt. Sie hält die Sache bei sich selbst fest. Davon zu scheiden ist etwas, was man wohl auch mit Sorge bezeichnet, was aber keineswegs Sorge um ist und wozu keine Hinwendung zu dem, was einen besorgt macht, gehört: die Angst, von der jede ungeborgene Seele erfüllt ist. Sie kann noch sehr verschiedene Formen annehmen, aber in allen ihren Formen ist für sie charakteristisch: sie ist nicht Angst vor etwas, was ihr bestimmt vor Augen stünde. Sie heftet sich wohl bald an dies, bald an jenes, aber das, woran sie sich heftet, ist nicht das, was sie eigentlich meint. Und sie treibt die Seele von sich selbst weg, hält sie nicht bei sich fest wie die Sorge. Wohl ist es der Zustand der Seele, der die Angst in ihr hervorruft. Aber das braucht nicht in der Form der expliziten Motivation zu geschehen. Die Angst braucht der Seele nicht aus der Beschäftigung mit sich selbst zu erwachsen, und ihr Zustand braucht gar nicht – gegenständlich – erfaßt zu sein. Dagegen gehört es zur Angst, daß er gespürt wird. Und je deutlicher er gespürt wird, desto klarer ist auch die Angst als Angst bewußt.

Der Zustand der Seele, der die Angst hervorruft und sich in ihr ausspricht, ist die Sünde (peccatum originis und peccatum actuale). Solange die Angst, die wir hier immer im Auge haben – die metaphysische Angst – noch mit der Angst vor etwas verwechselt wird, verstrickt sie die Seele in ein peripheres Leben: in Tätigkeiten, um dem zu entgehen, wovor man Angst hat, oder in eine Hingabe an die äußere Welt, um durch Emotionen, die von da kommen, die Angst zu übertäuben, und entfernt sie von sich selbst. Das Zweite, das Sich-betäuben, ist auch dann noch möglich, wenn die metaphysische Angst als solche und ihr Zusammenhang mit der Sünde bereits durchschaut ist. Allerdings nur, wenn es ein bloß rationales Wissen darum ist und kein inneres Spüren. Denn sobald die Seele die Angst und die Sündhaftigkeit wirklich spürt, kann sie nicht mehr davon loskommen, wenn sie es auch noch so gern möchte und sich mit aller Gier in das periphere Leben stürzt. Sie bleibt dann an sich festgebunden trotz allem, woran sie sich hingeben mag. Das Rückwärtig-gebundensein, das der Abwendung von sich selbst nicht widerspricht, ist überhaupt charakteristisch für die Angst.

Das, was mit Sicherheit die Sündhaftigkeit spürbar macht und die Angst erweckt, ist die Berührung der Gnade und der Anblick der Heiligkeit. Beides gehört zusammen. Wer nicht von der Gnade

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)