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Die ontische Struktur der Person...

und seelische Zuständlichkeiten, die die spezifischen Formen seines aktuellen Lebens sind: Liebe, Erbarmung, Vergebung, Seligkeit, Frieden. Sie treten auch da auf, wo nach natürlicher Vernunft keine Motive dafür vorliegen. Darum ist der Friede Gottes über alle Vernunft. Und darum muß das Reich Gottes allen, die draußen stehen, eine Torheit sein. Der Geist des Lichts ist seinem Wesen nach überströmende Fülle, vollkommenster, niemals sich vermindernder Reichtum. Nicht weil er es bei sich nicht aushalten kann, strahlt er aus – indem er ausstrahlt, bleibt er doch bei sich und bewahrt sich selbst. Und was von ihm erfüllt wird, das wird in ihm verwahrt und er wird darin verwahrt. Die Seele, die ihn aufnimmt, wird von ihm erfüllt und behält ihn bei sich, auch wenn sie ihn ausstrahlt, ja, je mehr sie ihn ausstrahlt, desto mehr bleibt er bei ihr. So kann sie in ihm eine wahrhafte Stätte finden. Wie steht es aber mit ihrer Individualität? Wird sie nicht vernichtet, wenn die natürlichen Reaktionen unterbunden werden, und wird es ihr nicht unmöglich gemacht, sich selbst auszuleben, wenn der neue Geist in der Seele Einzug hält und die Herrschaft ergreift? Darauf deuten auch die Worte vom Tod, durch den das Leben gewonnen wird, vom Haß gegen die eigene Seele u.dgl.

In der Tat ist es zweifellos, daß die Seele bei der Wiedergeburt aus dem Geiste eine radikale Wandlung erfährt. Das Leben, in dem sie sich und ihre Eigenart sonst auslebte, wird ihr abgeschnitten. Zunächst entschwindet, je mehr die Gnade sich in ihr verbreitet, fortschreitend aus ihr, was dem Geist des Bösen einen Angriffspunkt bot und was doch auch ihr selbst zugehörte. Und es schwindet die Bindung an die natürliche Vernunft und die Reaktionsweise, die sie vorschreibt. Dennoch wird das, was wir Individualität nannten, das Eigenste der Seele, nicht ausgelöscht. Diese Individualität ist ja keine Disposition zu bestimmten Reaktionen, keine psychische Fähigkeit, die sich zurückbildet, wenn sie sich nicht in aktuellen psychischen Zuständlichkeiten ausleben kann. Sie steht hinter allen natürlichen Anlagen, Dispositionen, Reaktionen. Sie drückt ihnen, wo sie vorhanden sind, ihren Stempel auf, ist aber selbst von ihnen unabhängig und verschwindet nicht mit ihnen.

Der ganze Charakter einer Person, d.h. die Gesamtheit der von ihrer seelischen Individualität spezifisch gefärbten natürlichen Dispositionen kann zerstört, die Seele kann von dieser Naturgrundlage,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/152&oldid=- (Version vom 31.7.2018)