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Abschnitt I

er sich erhebt, bedeutet zugleich eine Bannung seines Blicks auf das Reich, in das er hineingestellt ist. Aber dieser Bann ist kein unlösbarer. Es besteht für das freie Wesen die Möglichkeit, sich ihm zu entziehen und über seine natürliche Sphäre hinauszusehen.

Das kann freilich nur geschehen, wenn ihm aus der Sphäre, die es neu gewinnen soll, etwas entgegenkommt. Seine Freiheit reicht so weit, den Blick auf fremde Sphären hinzuwenden oder vor ihnen zu schließen. Aber nur, soweit sie sich ihm von sich aus darbieten. Erobern, was sich ihm nicht geben will, kann es nicht. Der Mensch kann die Gnade nur ergreifen, sofern die Gnade ihn ergreift. Er kann dem Bösen nur verfallen, wenn er vom Bösen versucht wird. Als pures Naturwesen steht er jenseits von Gut und Böse. Beide Möglichkeiten bestehen für ihn nur, sofern er die Natur transzendiert.

Es ist die Frage, ob es nur seine Freiheit ist, die ihn außerhalb der Natur stellt. Wenn die ursprüngliche Offenheit des Geistes durch seine Bindung an ein Naturwesen in Grenzen eingehegt wird und nur das, womit er als Naturwesen verbunden ist, sich ihm ohne weiteres darbietet – muß nicht dann eine der natürlichen entsprechende Bindung an die Sphären bestehen, zu denen er nur durchbrechen soll? Oder bedeutet jene Bindung nur, daß die Natur vor ihn hingebreitet liegt, ohne daß er sich um sie und sie um ihn zu bemühen braucht?

Andere Sphären könnten – eben dank der universalen Offenheit des Geistes – ebenfalls an ihn heran, aber nur bei einem aktiven Bemühen von beiden Seiten. Die Natur bedarf eines solchen Bemühens nicht, und sie wäre dazu gar nicht fähig, denn sie ist keine geistige Sphäre und entströmt nicht einem personalen Zentrum, von dem allein eine Aktivität ausgehen kann. Die zweite Möglichkeit erscheint plausibel. Aber doch nur, soweit es sich um ein geistiges Erobern neuer Sphären, um ein Kenntnisnehmen davon handelt. Nicht aber, sofern dabei zugleich eine Aufnahme der Seele in ein fremdes Reich stattfinden soll. Solange der Mensch die fremde Sphäre nur mit dem Geiste entgegennimmt, kann er ihr seelisch ebenso entzogen bleiben, wie er von der Natur Kenntnis und Erkenntnis gewinnen kann, während er sich ihr seelisch verschließt. Das Sichtbarwerden für den Geist ist nicht gleichbedeutend mit dem Einströmen in die Seele. Der Geist kann sehen und die Seele leer

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/147&oldid=- (Version vom 31.7.2018)