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Sein und Zeit

der Art, wie die Philosophie des Mittelalters behandelt wird: in kleinen Seitenbemerkungen, die es als überflüssig erscheinen lassen, sich ernstlich mit ihr auseinanderzusetzen; als Irrweg, auf dem das rechte Fragen nach dem Sinn des Seins verloren ging[1]. Hätte es sich nicht gelohnt nachzuforschen, ob nicht in dem Bemühen um die analogia entis die echte Frage nach dem Sinn des Seins lebe? Bei gründlicher Erwägung wäre auch klar geworden, daß die Tradition Sein keineswegs im Sinne von Vorhandensein (d.i. dinglichem Beharren) meinte[2].

Es ist ferner sehr auffallend, wie bei der Erörterung des Wahrheitsbegriffs als Wahrheit im Sinne der Tradition einfach die Urteilswahrheit hingestellt wird, obgleich der heilige Thomas in der ersten Quaestio de veritate bei der Beantwortung der Frage. „Was ist Wahrheit?“ einen vierfachen Sinn von Wahrheit unterscheidet und die Urteilswahrheit keineswegs als die ursprünglichste darstellt, wenn auch als die erste von uns aus gesehen. Wenn er mit Hilarius das Wahre als das sich offenbarende und erklärende Sein[3] bezeichnet, so erinnert das sogar sehr an Heideggers Wahrheit als Entdecktheit. Und wo hat die Rede von der Wahrheit als Existential ein Recht, wenn nicht bei der Ersten Wahrheit? Gott allein ist ohne Einschränkung in der Wahrheit, während der menschliche Geist, wie Heidegger selbst betont, zugleich „in der Wahrheit und in der Unwahrheit“ ist.

Die Kritiker von Sein und Zeit haben es meist als ihre Aufgabe angesehen, die Wurzeln dieser Philosophie bei den führenden Geistern des letzten Jahrhunderts nachzuweisen (Kierkegaard, Nietzsche, Karl Marx, Bergson, Dilthey, Simmel, Husserl, Scheler u.a.)[4]. Es scheint ihnen entgangen zu sein, wie stark das Ringen mit Kant bestimmend gewesen ist. (Das Kant-Buch hat es offenbar gemacht.) Und kaum weniger bedeutsam ist der ständige Hinblick auf die ursprünglichen Fragestellungen der Griechen und deren Abwandlung in der späteren Philosophie. Es würde sich lohnen, das Verhältnis Heideggers zu


  1. Vgl. Endliches und Ewiges Sein, S. 6.
  2. Vgl. Maximilian Beck, Philosophische Hefte 1, Berlin 1928, S. 20.
  3. Quaestiones disputatae de veritate q I a l corp. (s. Edith Steins Werke, Bd. III).
  4. Vgl. Philosophische Hefte, herausgegeben von Maximilian Beck, Heft l (Juli 1928), Sonderheft über Heidegger, Sein und Zeit; Alfred Delp, Tragische Existenz, Freiburg 1935.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/115&oldid=- (Version vom 31.7.2018)