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Sein und Zeit

nach den Möglichkeiten, die in ihm beschlossen sind –, ist keine glatt aufgehende Rechnung. Unser irdisches Dasein langt nicht hin zur Verwirklichung aller unsererer Möglichkeiten und zur Aufnahme alles dessen, was uns geboten wird. Die Entscheidung für eine Möglichkeit und das Fallenlassen anderer bezeichnet Heidegger als das Schuldigsein, das unvermeidlich ist und in das wir ganz bewußt einwilligen müssen, wenn wir entschlossen unser Dasein auf uns nehmen. Er unterläßt es, dieses in unserer Endlichkeit begründete Schuldigsein von dem vermeidlichen und darum sündhaften Versagen gegenüber einer Forderung zu unterscheiden. Es ist wohl auch eine allzu idealisierende Darstellung des Entschlossenen, wenn behauptet wird, daß er niemals Zeit verliere und immer Zeit habe für das, was der Augenblick von ihm verlange. Selbst der Heilige, der diesem Ideal am nächsten kommt, wird manchmal bedauern, daß ihm die nötige Zeit fehle, um allem entsprechen zu können, was von ihm verlangt wird; und er wird nicht immer imstande sein, unter verschiedenen zur Wahl stehenden Möglichkeiten die beste klar herausfinden zu können[1]. Er wird Ruhe finden in dem Vertrauen, daß Gott den, der guten Willens ist, vor einem verhängnisvollen Fehlgriff bewahrt und seine unfreiwilligen Irrtümer zu gutem Ende lenkt. Aber gerade er ist überzeugt von seiner eigenen Fehlbarkeit und davon, daß Gott allein der unumschränkt Erschlossene ist.


Die Unzulänglichkeit unseres zeitlichen Seins zur vollen Entfaltung unseres Wesens, zur Ausschöpfung dessen, was uns zur Aufnahme in unser Sein geboten wird, und zu seinem gesammelten Besitz ist ein Hinweis darauf, daß das eigentliche Sein, dessen wir in der Zeitlichkeit fähig sind – das aus dem Verfall der durchschnittlichen Alltäglichkeit gelöste entschlossene, dem Gewissensruf gehorsame –, noch gar nicht unser letztlich-eigentliches Sein ist. Es ist in diesem Zusammenhang an ein Nietzsche-Wort zu erinnern: „Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit“. Lust darf hier nicht in einem engen und niedrigen Sinn gefaßt werden. Es ist an die tiefe Befriedigung zu denken, die in der Erfüllung eines Sehnens erlebt wird. Heidegger will die Sorge


  1. Es ist bekannt, wie große Gewissensnöte das Gelübde, immer das Vollkommenere zu tun, zur Folge haben können.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/109&oldid=- (Version vom 31.7.2018)