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Sein und Zeit

die Tatsache des Todes gestellt durch das Sterben anderer. Heidegger behauptet, daß wir den Tod anderer nicht erfahren können, und gewiß erfahren wir ihn nicht so wie den eigenen Tod. Und doch ist Sterben und Tod anderer grundlegend für unser Wissen um beides und damit auch für unser Verständnis des eigenen Seins und des menschlichen Seins überhaupt. Wir würden nicht an das Ende unseres Lebens glauben, wir würden die Angst nicht verstehen, ja sie würde bei vielen niemals nackt zum Durchbruch kommen (d.h. ohne Verkleidung als Furcht vor diesem und jenem), wenn wir nicht beständig erfahren würden, daß andere sterben.

Als Kinder erfahren wir gewöhnlich den Tod zunächst als Nicht-mehr-in-der-Welt-sein. Menschen, die zu unserer näheren oder ferneren Umgebung gehört haben, verschwinden, und man sagt uns, daß sie tot seien. Solange wir nicht mehr erfahren als das, erwacht noch keine Angst und kein Grauen vor dem Tod. Auf dieser Grundlage kann das erwachsen, was Heidegger als Man stirbt bezeichnet: ein Wissen darum, daß alle Menschen eines Tages aus der Welt, in der wir leben, ausscheiden und daß auch für uns einmal dieser Tag kommen wird. Es ist eine Tatsache, an der wir nicht zweifeln. Aber wir haben auch keinen lebendigen Erfahrungsglauben daran; es ist kein Ereignis, das von einer lebendigen Erwartung umfaßt wird. Darum läßt es uns kalt, wir sind darum unbesorgt. Für die ersten Kinderjahre ist diese Sorglosigkeit natürlich und gesund. Wenn sie aber in reifen Jahren und vielleicht das ganze Leben hindurch festgehalten wird, so darf man sagen, daß das Leben nicht eigentlich gelebt wird. Denn zum vollen Menschenleben gehört ein Seinsverständnis, das vor den letzten Dingen nicht die Augen schließt. Schon ein nachdenkliches Kind wird sich bei der Tatsache des Verschwindens von Menschen seiner Umgebung nicht beruhigen, sondern wissen wollen, was Totsein bedeute; und die Erklärung, die man ihm gibt, wird zum Nachgrübeln über den Tod anregen. Vielleicht genügt schon das, um die Sorglosigkeit des Man stirbt zu erschüttern. Ganz sicher aber wird sie erschüttert durch den Anblick eines Toten. Schon die Teilnahme an Begräbnissen kann auf ein empfindsames Kind so wirken. Das Entblößen des Sarges, der erst mit Blumen bedeckt war, das Hinaustragen und das Hinabsenken ins Grab erweckt einen Schauer vor der Unerbittlichkeit des Abgeschiedenseins, vielleicht auch ein Grauen vor der Entseelung.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/105&oldid=- (Version vom 31.7.2018)