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Tisch ganz allein den beiden alten Herren gegenüber. Ich bekam auch jetzt nicht Plato vorgelegt, sondern Isocrates – es war ein besonderer Wunsch Wilhelms II., daß im Gymnasialunterricht die berühmten Redner ausgiebig behandelt werden sollten, und das geschah auf Kosten der Philosophen – aber die Frage nach dem Phädon kam und auch die nach den homerischen Gesängen; wenn ich mich recht erinnere, mußte ich auch ein Stück aus der Ilias lesen und übersetzen. Dann hatte ich wieder einmal eine Prüfung bestanden. Ich bekam in mein Reifezeugnis den Vermerk hinzugeschrieben, daß ich mir durch die Ergänzungsprüfung im Griechischen die Reife eines humanistischen Gymnasiums erworben hätte. Die beiden Herren erkundigten sich noch, zu welchem Zweck ich die Prüfung gemacht hätte. Es kam in Breslau sehr selten vor, weil man dort auch mit Realgymnasialabitur zur Promotion in allen Fakultäten zugelassen wurde. Ich berichtete ihnen von der abweichenden Bestimmung in Göttingen. Nun wollten sie noch wissen, was ich für eine Doktorarbeit machte. Als ich vom Problem der Einfühlung sprach, stellten sie keine Fragen mehr. Am nächsten Morgen bat Herr Geheimrat Landien Dr. Stenzel um Auskunft darüber, was „Einfühlung“ sei.

Eine Rückberufung nach Weißkirchen hatte ich noch nicht bekommen. Statt dessen traf – wohl auch noch im Oktober – Suse Mugdan ein und brachte die Nachricht, das Lazarett sei aufgelöst worden. Seit Galizien von den Russen befreit war, gehörte Weißkirchen nicht mehr zum Etappengebiet und die Kadettenanstalt sollte wieder ihrem alten Zweck dienen. Suse und ich stellten uns aufs neue dem Roten Kreuz zur Verfügung, um an anderer Stelle wieder eingesetzt zu werden, aber wir bekamen nie mehr eine Einberufung.


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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/281&oldid=- (Version vom 31.7.2018)