Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/280

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

der kleine Jochen, erst wenige Monate alt, schlief meist in seinem Wagen in dem Zimmer, in dem wir arbeiteten.

Manchmal wurde bei schwierigen Stellen auch der Herr des Hauses zu Hilfe gerufen. Auf seinen Rat hin gab ich in der erneuten Meldung zur Prüfung Plato als Spezialgebiet an und bat, mich dem Johannes-Gymnasium zu überweisen. Geheimrat Thalheim, mein alter Freund mit dem strengen Ton und dem gütigen Herzen, erklärte mir, das Provinzial-Schulkollegium brauche solche persönliche Wünsche nicht zu berücksichtigen. Ich bekam aber dann doch die Nachricht, daß ich mich im Johannesgymnasium zur Prüfung einzufinden hätte. Der Termin war schon im Oktober; nach meinem alten Rezept, solche Dinge so schnell wie möglich zu erledigen. Ich wußte von Dr. Stenzel, daß ich keine Aussicht hatte, von ihm geprüft zu werden. Sein Chef besorgte dieses Geschäft selbst, aber in dessen Eigenheiten wurde ich gründlich eingeweiht. Z.B. mußte man die Überschriften der einzelnen homerischen Gesänge wissen. Und wenn der alte Herr auf Plato zu sprechen kam, pflegte er sich nach „Phädon“ zu erkundigen und dann die Frage zu stellen, warum Sokrates so lange auf die Vollstreckung des Todesurteils warten mußte (Es wird im Anfang des Dialogs erwähnt, daß man auf die Rückkehr des Schiffes wartete, das von Athen nach Delos entsandt war. Diese Fahrt nach Delos war eine staatlich-liturgische Handlung; während ihrer Dauer durfte keine Hinrichtung stattfinden): eine echte Philologenfrage, auf die ein Philosoph nie verfallen würde.

Es war natürlich sehr angenehm, daß ich mich auf diese Weise vorbereiten konnte. Im übrigen war Herr Geheimrat Landien das Muster eines Gymnasialdirektors aus der alten Zeit, würdevoll und gütig zugleich, schon in seiner äußeren Erscheinung ehrfurchtsgebietend mit seinem stattlichen Wuchs und dem langen, in der Mitte geteilten, schneeweißen Bart. Die schriftliche Arbeit ließ er mich in seinem Arbeitszimmer schreiben. Davor war mir etwas bange. Ich hatte nämlich fast nur mündlich gearbeitet und war ganz ungeübt, nach Diktat Griechisch zu schreiben; vor allem fürchtete ich, daß ich viele Accentfehler machen würde. Beruhigend war mir während des Diktats, daß ich den Text (nicht Plato, sondern aus einer berühmten Lysias-Rede) sofort verstand; es war also keine Gefahr, daß mir die Übersetzung Schwierigkeiten machen würde. Und dann kam eine sehr angenehme Überraschung: Geheimrat Landien reichte mir seinen Zettel, damit ich vergleichen könnte, ob ich beim Diktieren etwas ausgelassen hätte. Voller Freude griff ich danach und prüfte alle meine Accente nach. Bei der mündlichen Prüfung ging es etwas feierlicher zu, weil auch Geheimrat Thalheim zugegen war. In einem großen Raum saß ich an einem langen grünen

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/280&oldid=- (Version vom 31.7.2018)