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auch nichts davon, als ich nach Hause kam. Aber nach einigen Wochen erhielt ich die Nachricht, daß ich vor dem Kriegsgericht wegen Umgehung der Zensur angeklagt sei. Darauf stand Gefängnisstrafe. Die ganze Familie war in heller Aufregung. Eine erste Vernehmung fand in dem Breslauer Amtsgericht statt. Die zweite sollte vor dem Kriegsgericht in Ratibor sein. Ich wollte hinfahren und wahrheitsgetreu angeben, daß mir die Bestimmung nicht unbekannt gewesen sei, daß ich aber gar nicht daran gedacht hätte, weil das Hin- und Herbesorgen der Post ganz üblich war. Um keinen Preis wollte ich sagen, daß ich von dem Verbot nichts gewußt hätte: lieber ins Gefängnis gehen als lügen. Jemand kam auf den Gedanken, ich sollte an unsern alten Bekannten von Grunwald her, den Bürgermeister Westrum in Ratibor, schreiben und um seine Hilfe bitten. Er antwortete freundlich: er habe mit dem Kriegsgerichtsrat gesprochen, der die Sache zu behandeln habe; der wolle die Verhandlung verschieben, bis ein Gesetz im Reichstag durchgebracht sei, das für solche Fälle Geldstrafe vorsähe. Gleichzeitig machte das Breslauer Rote Kreuz für mich und meine Gefährtinnen eine Eingabe um Freisprechung. Eines Tages kam wieder ein amtliches Schreiben, mit der angenehmen Mitteilung, der Prozeß sei niedergeschlagen. Die Familie atmete auf. Damit war auch dieses Nachspiel meiner Schwesternzeit beendet.

Ich hatte meinen Abschied von Weißkirchen keineswegs als einen endgültigen betrachtet, sondern wartete ernstlich auf eine Rückberufung. Meine Urlaubszeit benützte ich zunächst, um das Hilfsschwesternexamen zu machen, zu dem man nach halbjähriger praktischer Tätigkeit als Helferin zugelassen wurde. Sodann begann ich jetzt mit Volldampf Griechisch zu arbeiten, um nun endlich das Graecum zu machen. Suse hatte mir dringend empfohlen, mir dabei von ihren Geschwistern helfen zu lassen. Ihr Schwager Julius Stenzel war am Johanneum, einem humanistischen Gymnasium, als Lehrer der alten Sprachen tätig, zugleich arbeitete er privat eifrig als Platoforscher, und Bertha, seine Frau, war seine treue und verständnisvolle Mitarbeiterin. An einem Sonntagvormittag suchte ich sie auf. Das Ehepaar war gerade damit beschäftigt, gemeinsam Platos „Staat“ zu lesen. Bertha hörte mein Anliegen an und erklärte sich bereit, einigemal in der Woche mit mir zu arbeiten. Sie ließ mich auch probeweise ein paar Zeilen Plato übersetzen, und da sie fand, daß es gar nicht übel ging, forderte sie mich auf, an ihrer Sonntagslektüre teilzunehmen. Nun versuchte ich mich einige Wochen lang ganz in Plato und Homer; zweimal wöchentlich, wenn ich mich recht erinnere, ging ich zu Frau Stenzel. Sie war damals schon Mutter von drei Kindern (später kam noch ein viertes hinzu) und das jüngste,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/279&oldid=- (Version vom 31.7.2018)