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eingekehrt und hatte mir beides angeboten, so daß ich seinen Wunsch erfüllen konnte. Ich sah diese Schwester zum erstenmal. Sie gehörte zum Roten Kreuz. Man sagte ihr nach, sie sei im Felde gewesen und habe sich dort moralisch unmöglich gemacht. Nun wurde sie hier stets für Nachtdienst verwendet, damit sie gar nicht mit andern zusammenkäme. Sie ging von Station zu Station, um zu sehen, ob irgendwo jemand in Lebensgefahr sei und ihrer Hilfe bedürfte. Was an den Gerüchten war, weiß ich nicht. Jedenfalls schien sie froh, einen arglosen Menschen zu finden, mit dem sie ein wenig sprechen konnte.

Mehrmals wünschte mein Patient, daß ich ihm Hände und Arme mit Wasser kühle. Da ich in der Nacht für niemanden zu sorgen hatte, konnte ich ihm alles tun, was ihm einfiel. Als am Morgen die andern Schwestern kamen, durfte ich wohl fortgehen, um mich etwas frisch zu machen. Bei der Rückkehr fand ich alles – vom Chef bis zu den Küchenmädchen – in heller Aufregung. Der Schwerverwundete war ein adliger Herr, Neffe eines Ministers, der sich schon nach seinem Befinden erkundigt hatte. Er war mit nichts zufrieden, äußerte Wünsche über Wünsche, die sich nicht erfüllen ließen, und jagte allen, die ihm nahe kamen, einen großen Schrecken ein. Eben sollte ihm eins der Mädchen das Frühstück bringen. Sie wagte es nicht und bat mich, es für sie zu tun. Während sie die andern Offiziere versorgte, näherte ich mich dem Gefürchteten. „Guten Morgen, Schwesterchen“, rief er mir entgegen. Er hatte mich offenbar noch von der Nacht her in guter Erinnerung. Die Wärterin sagte draußen ganz ehrfürchtig bewundernd zu mir: „Ihnen hat er gern, Schwester, er hat ,Schwesterchen’ gesagt“.

Nach einigen Tagen kamen Bruder und Schwester des Verwundeten, um nach ihm zu sehen. Der Bruder saß stundenlang im Zimmer, ohne viel sagen zu können.

Ich war tagelang im Unklaren, wie es eigentlich um meinen Patienten stand. Die Ärzte fanden es nicht für nötig, uns Bescheid zu sagen. Ich sah seine Kräfte rasch verfallen und war ganz verzweifelt, daß ich nichts dagegen tun konnte. Immer wieder versuchte ich ihm etwas Nahrung oder die verschriebenen Medikamente beizubringen. Als ich einmal wieder mit Tropfen an sein Bett kam, stieß er meine Hand weg und rief: „Fahren S’ ab, Kanaille!“ Der Bruder kam mir nach, als ich das Zimmer verließ, und sagte einige entschuldigende Worte. Natürlich erwiderte ich ihm, man könne doch einem Kranken in diesem Zustand nichts übel nehmen. Aber die aufregende Pflege gab meinen ohnehin schon überreizten Nerven den Rest. Es wurde mir klar, daß es hohe Zeit sei, mir die Erholung zu gönnen, die ich zwei Monate vorher als verfrüht abgelehnt hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/277&oldid=- (Version vom 31.7.2018)