Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/274

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Von ihrer eigenen Anwesenheit merkte man kaum etwas, wir waren weiter ungestört wie zu zweien. Schwester Alwine bekam ein ganz besonderes kleines Reich. Es wurde ein eigener Bahnhof gebaut und unmittelbar daneben ein Bad – beides leicht aus Holz gezimmert–, Alwine als Bademeisterin bekam ihr Zimmer in diesem Häuschen. Nun schlug sie vor, einen noch freien Raum für Erna und mich einzurichten. Betten, einen Tisch und Stühle hatten sie schnell herbeigeschafft. Ein paar bunte Bauerntücher, die man für wenig Geld in den Lauben am Markt bekam, als Deckchen und selbstgepflückte Wiesenblumen machten das Zimmer freundlich. Natürlich waren wir sehr dankbar für diese Lösung. Erna stellte keine Ansprüche an meine Dienstzeit. Ich stand morgens sehr früh auf und bereitete für uns beide den Kaffee. Wir hatten einen netten Krug mit passendem Karlsbader Trichter und zwei Täßchen gekauft. Vor- und Nachmittag las mein Gast im Park oder ging spazieren; manchmal fanden Suse oder Alwine Zeit, sie zu begleiten. Die freundliche Frau Dr. Seidemann, die von meinem Besuch gehört hatte, bat mich, sie mit meiner Schwester bekannt zu machen, und führte sie im Kasino ein. Man zeigte ihr das Lazarett, sie half auch gelegentlich beim Verbinden. Zu den Mahlzeiten holte sie mich an der Baracke ab, dann gingen wir zusammen in den Speisesaal. War ich noch nicht mit Essenausteilen fertig, wenn sie kam, dann half sie mir in ihrer lieben, freundlichen Weise. Keine von uns zeigte sich dabei im mindesten ungeduldig. Trotzdem stieß sich Schwester Marie Luise daran. Sie erklärte mir, es sei ihr peinlich, wenn sie Erna nur kommen sähe; es erschiene ihr wie eine Mahnung, daß sie mich jetzt gehen lassen müsse.

Kurz vor Ernas Abreise erfuhr wiederum Schwester Oberin (wohl durch Alwine) von meinem Martyrium. Sie schickte mir den kurzen Dienstbefehl, einen Tag ganz freizumachen und mit Erna einen Tagesausflug zu unternehmen. Wir unternahmen bei strahlendem Wetter eine schöne Fußwanderung nach dem Helfenstein, glücklich, meiner Peinigerin entronnen zu sein und einmal ungehindert miteinander reden zu können. Erna hatte wie immer viel auf dem Herzen, und bisher konnten wir nur an den Abenden etwas ausführlicher miteinander sprechen.

Als ich am nächsten Morgen wieder zur Baracke kam, erspähten mich die Küchenmädchen schon vom Fenster aus, und die Lebhafteste begrüßte mich mit einem Jubelschrei: „Unsere Schwester ist wieder da!“ Sie hatten gemeint, ich sei für immer verschwunden. Tatsächlich wurde ich, sobald Erna abgereist war, wieder versetzt: auf die I. Chirurgische Station, wo ich schon einmal ausgeholfen hatte. Dort lagen die schwersten Fälle, für die ärztliche Hilfe nahe

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/274&oldid=- (Version vom 31.7.2018)