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schön darauf spielte. Leider spielte er auch gern Karten und ließ sich im Park vom Direktor dabei erwischen, wie er mit andern um Geld spielte. Das war streng verboten, und er wurde dafür mit Haft bestraft. Ich hatte ihn jetzt nicht mehr im Saal, aber er gehörte noch zu uns und mußte mit Kost von uns aus versorgt werden. Wenn ich den täglichen Bestellzettel für die Küche schrieb, ließ ich für ihn immer noch eine „IV. Form“ kommen, weil ich wußte, daß die derbere V. ihm sehr zuwider war. Aus dem Gefängnis kam er gleich zum Abtransport. Es erschien noch einmal bei uns zum Abschied in feldmarschmäßiger Ausrüstung, hielt mir in gebrochenem Deutsch eine temperamentvolle Dankrede und küßte mir ritterlich die Hand wie ein echter Magyar.

Das Essenausteilen hätte mir an sich sehr viel Freude gemacht, denn die Leute hatten gesunden Appetit und standen mit ihren Näpfen erwartungsvoll in Reih und Glied, wenn ich aus den großen Kesseln ausschöpfte. Aber Schwester Marie Luise hatte auch dafür das denkbar umständlichste Verfahren ausgedacht. Damit ja nicht etwas von den Resten ungerecht an die noch Hungrigen verteilt würde, mußten die Kessel mehrmals von einem Saal zum andern getragen werden, und die Schwester schoß selbst hin und her, um jeden Löffel zu überwachen.

Auch sonst hatte ich täglich manches hinunterzuschlucken. Ganz schlimm war es, als gerade in diesen Juliwochen Erna mich besuchen kam. Sie hatte Urlaub und wollte ihn nirgends lieber als bei mir verbringen. Weißkirchen war ja auch ein reizend gelegener kleiner Kurort und an sich zur Erholung recht geeignet. Die erste Sorge war, eine Wohnung für sie zu finden. Ich konnte mich schwer losmachen, um zu suchen, aber einigemal nahm ich mir die Freistunde, auf die ich Anspruch hatte, dafür. Doch es war vergeblich. Wenn ich in den Logierhäusern in deutscher Sprache nach einem Zimmer fragte, bekam ich gar keine Antwort. Schwester Oberin hörte von meiner Verlegenheit und ließ mir sagen, Erna solle selbstverständlich die Mahlzeiten mit mir im Lazarett nehmen, und auch ein Nachtquartier wollte sie uns zur Verfügung stellen, wenn es uns gut genug wäre. Alwine hatte ihr den Vorschlag gemacht. In unsern Wohnverhältnissen hatte sich in der letzten Zeit manches geändert. Als Schwester Alwine in Urlaub ging, wurde Suse Mugdan als „Ferienvertretung“ für sie in die kleine Gemeinde eingeladen. Dann gingen auch Schwester Klara und Lotte für 14 Tage fort, und wir beiden Neulinge blieben allein zurück. Schließlich wurde der Raum als Krankenzimmer in Anspruch genommen. Schwester Susi, bei der Suse arbeitete, nahm uns beide bei sich auf. Sie hatte auf ihrer Station ein großes Schlafzimmer mit drei hohen Offiziersbetten.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/273&oldid=- (Version vom 31.7.2018)