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mich nicht wieder, wie meine Vorgängerinnen, zu vertreiben. Es fiel mir auf, daß sie eine „gute Kinderstube“ zu haben schien. Sehr bald hörte ich, daß sie Johanniterin sei; von denen wußte ich schon aus Breslau, daß sie durchwegs aus guten Familien stammen; allerdings sagte man ihnen auch nach, daß sie hochnäsig seien und auf die andern Verbände sehr von oben herabsähen.

Ich sollte einen der Säle übernehmen, aber auch in dem andern den die Schwester selbst unter sich hatte, beim Verbinden helfen. Darin traute sie mir mehr zu als sich selbst, da ich vom Operationssaal kam. Das Assistieren im Verbandzimmer überließ sie mir ganz. Als ich zum erstenmal in ihren Saal kam, leuchteten mir gleich aus einem der ersten Betten ein paar blaue Augen entgegen. Es war der kleine Bergmann, dem ich im Bad geholfen hatte. Er erkannte mich sofort wieder, als ich zur Tür hereinkam und war froh über das Wiedersehen. Er war am schwierigsten zu verbinden, an beiden Oberschenkeln waren tiefe Fleischwunden von einem Granatsplitter. Da aber die Knochen unverletzt waren, galt er noch als leichter Fall und wurde nicht in der Nähe des Operationssaals behalten. Ich mußte ihn auf dem Arm hochhalten, damit der Arzt ungehindert die Binden lösen und wieder anlegen konnte. Dabei schrie er immer laut, worüber der Doktor sehr ungehalten wurde. Es war ein Pole, der jeden Tag aus seinem Lazarett des nächsten Ortes herüberkam, um bei uns auszuhelfen. Die Baracke hatte zwar noch von der Seuchenzeit her eine Stationsärztin, Frau Dr. Seidemann, sie machte auch noch bei uns Visite, hatte aber das Verbinden nicht übernommen.

Einmal redete ich meinem kleinen Bergmann unter vier Augen ins Gewissen. Ich fragte ihn, ob denn das Verbinden so sehr wehtue. Ach nein, gar so schlimm sei es nicht. Dann sollte er auch die Zähne zusammenbeißen und nicht schreien. Es seien lauter Polen und Tschechen um ihn herum, der Arzt selbst sei ein Pole. Denen müsse er doch zeigen, daß ein deutscher Soldat etwas aushalten könne. So, das seien alles Polen und Tschechen? Er hatte es noch gar nicht gemerkt. Gut, er wollte tapfer sein. Vor dem nächsten Verbandwechsel fragte ich noch einmal: „Also, wenn heute der Herr Doktor kommt...?“ „...Wird nix gesagt!“ war die entschlossene Antwort. Und er hielt Wort.

Von den Patienten sind mir besonders zwei in Erinnerung geblieben: ein großer, junger Tscheche oder Slowak, der die Krätze hatte und den ich jeden Abend von oben bis unten mit Salbe anstreichen mußte; es war ein guter, freundlicher Mensch, der alles geduldig und vergnügt über sich ergehen ließ; sodann ein lustiger Zigeuner, der eine Geige über seinem Bett hängen hatte und sehr

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/272&oldid=- (Version vom 31.7.2018)