Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/270

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

setzten sofort unseren Sterilisierapparat in Bewegung und machten uns schlachtbereit. Um 10 Uhr kamen die ersten Verwundeten; von da ab arbeiteten wir mit einer späten und sehr kurzen Mittagspause durch bis gegen 10 Uhr abends, wenn ich mich recht erinnere. Außer den Ärzten, die täglich bei uns arbeiteten, kamen noch mehrere aus den Baracken zu Hilfe, die in Chirurgie gänzlich ungeübt waren. Schwester Anni sollte mit beim Verbinden helfen. Mir wurde das Instrumententischchen anvertraut; ich mußte allen zureichen, was sie brauchten. Es war keine kleine Aufgabe, für so viele Leute immer das Rechte bereitzuhalten. Ich durfte gar nicht abwarten, bis etwas verlangt wurde, sondern mußte beständig herumschauen, was für Wunden es gab, um für jede das Nötige vorzubereiten. Eine junge Ärztin, die noch gar nichts verstand, stellte sich in meine Nähe, um sich von mir die nötigen Weisungen geben zu lassen. Ich hatte in den Wochen, seit ich im Operationssaal arbeitete, die einfachen Mittel der Kriegschirurgie schon genügend kennengelernt. Der Landsturmmann Max und die Wärterin Helene waren meine Hilfstruppen: wenn meine Vorräte an Tupfern, Pinseln, Jod, Wasserstoff, u.s.w. auszugehen drohten, dann rief ich ihnen ein bittendes Wort zu, und sie sorgten diensteifrig für Ersatz. Offenbar verdoppelte die Aufgabe unsere Kräfte, und ich fühlte mich bei dieser Höchstanspannung so wohl, daß der Tag mir immer als der schönste aus meinem ganzen Lazarettleben in Erinnerung geblieben ist. Als einmal eine kleine Pause eintrat, zündeten sich die Ärzte eine Zigarette an und plauderten ein wenig. Ich hörte, wie einer der fremden fragte, was denn das für eine unermüdliche Schwester am Instrumententisch sei. Dr. Scharf erzählte bereitwillig, was er von mir wußte, und ich mußte im stillen lächeln, wie er wortgetreu wiederholte, was er mir abgefragt hatte.

An diesem Tage änderte sich der Charakter des Lazaretts: es waren nun weit mehr Verwundete als Seuchenkranke da. Die meisten Baracken wurden mit Leichtverwundeten belegt. Die schwersten Fälle kamen auf die I. Chirurgische Station im Offiziersgebäude. Dort war auch der Große Operationssaal, wo sie täglich oder so oft es nötig war, verbunden werden sollten.

Nicht lange nach jenem großen Transport wurde wieder einer gemeldet. Wir bekamen sie jetzt nicht mehr aus den Karpathen, sondern aus der Gegend von Warschau. Es war die Zeit des großen Vormarschs in Polen. Die Meldung kam ganz früh am Morgen, ehe wir noch aufgestanden waren. Alwine mußte sich schleunigst ankleiden und von Schwester Oberin den Schlüssel zum Bad holen. Auf ihre Veranlassung ging ich mit hinauf und bat um Erlaubnis, ihr beim Baden zu helfen. Wir mußten Schwester Margarete aus dem

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/270&oldid=- (Version vom 31.7.2018)