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was für ein Buch ich da hätte. Ich reichte es ihm: es waren Husserls „Ideen“. Ganz erstaunt rief er aus: „O, Sie sind philosophisch?“ Seitdem war das Eis gebrochen. Es war ihm also die vermeintliche Fachkollegin unbehaglich gewesen. Er wußte nicht, daß auch die Philosophin den Ärzten scharf auf die Finger sah. Es kam vor, daß ich einen Patienten wiedererkannte, der auf den Tisch gelegt wurde. Wir hatten ihn erst einige Tage zuvor hier gehabt. Neulich hatte es sich um eine saubere Wunde gehandelt, und heute war am selben Bein ein großer Abszeß zu öffnen – das ging doch nicht mit rechten Dingen zu! Wenn ich nachher allein war, sah ich in das Operationsbuch, in das die Namen der Patienten und alle Eingriffe eingetragen wurden. Ich hatte mich nicht getäuscht. Solche Entdeckungen regten mich sehr auf. War es nicht empörend, daß die Leute von dem Ort, wo sie geheilt werden sollten, den Keim zu neuen Leiden mitnahmen? Und man konnte kaum etwas dagegen tun. Es war ja nicht nachzuweisen, daß der Abszeß durch eine Unsauberkeit des Operateurs entstanden war. Wir konnten nichts machen als selbst so gut wie möglich für Asepsis sorgen.

Ein einziger deutscher Arzt war bei uns tätig: Dr. Scharf, ein freundlicher Österreicher. Er arbeitete gut, und ich war immer froh, wenn ich ihm helfen durfte. Er sprach auch gern ein paar Worte mit mir, wenn die Arbeit erledigt war. Bald hatte er es heraus, was ich „in Zivil“ sei. Ich hielt es durchaus nicht mehr geheim. Seit jenen Erfahrungen auf der Typhusstation hatte ich gemerkt, daß es wie ein Schutzwall war. Wenn ein Arzt mich dem andern als „Schwester Edith, in Zivil Philosophin“ vorstellte, war ich von vornherein vor Zudringlichkeiten sicher. Dr. Scharf erkundigte sich, warum ich denn meine wissenschaftlichen Arbeiten unterbrochen hätte und hierhergekommen sei. (Darüber schienen sich alle zu wundern). Ich erklärte ihm, meine Studiengefährten seien alle im Feld und ich sähe nicht ein, warum ich es besser haben sollte als sie. Das schien ihm Eindruck zu machen. Wenn ich ihm aber vorschlug, sich für den Frontdienst zu melden und dann auch mir Beschäftigung in einem Feldlazarett zu verschaffen, so konnte er sich dafür nicht begeistern. Trotzdem wurden mir diese kleinen Unterhaltungen lieb. Ich begann auf den täglichen Besuch zu warten und war betrübt, wenn er ausblieb.

Eines Morgens begegnete mir Schwester Alwine im Gang und rief mir zu, es sei ein Transport von 1000 Verwundeten gemeldet. Sie erfuhr das immer zuerst, weil sie das Bad unter sich hatte; dorthin wurden alle Ankömmlinge sofort gebracht. Und vom Bad kamen sie in den Operationssaal zum Verbinden. Ich tat einen Luftsprung vor Freude, daß wir Arbeit bekamen. Schwester Anni und ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/269&oldid=- (Version vom 31.7.2018)