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geduldigsten Kranken und auch als die hilfsbereitesten kennen. Einmal mußte ich einen besinnungslosen Patienten von großem Körpergewicht auf ein anderes Bett hinüberlegen, um das seine sauber zu machen. Leute, die bei klarer Besinnung und nicht zu schwer waren, trug ich gewöhnlich allein auf das Nachbarbett. Das ging ganz gut, wenn man richtig anfaßte. Aber in diesem Fall war es nicht möglich. Da keine Schwester in der Nähe war, bat ich einen jungen Deutschböhmen, mir zu helfen. Es ging ihm schon gut, und er spazierte müßig im Saal herum. Er war immer freundlich wie ein Kind und mir sehr ergeben. „Schwester“, sagte er jetzt verlegen, „ich tät’s gern Ihnen zulieb. Aber ich kann nicht, ich ekle mich zuviel“. Da kam ein Tscheche freiwillig herbei. Er stand noch lange nicht so fest auf den Füßen wie der andere. „Es ist mir auch nicht leicht“, sagte er, „aber einem kranken Menschen muß man helfen“.

Ein Slovak, daheim ein wohlhabender Bauer, hatte einen großen Abszeß am Bein, weigerte sich aber trotz heftiger Schmerzen, ihn öffnen zu lassen, weil er sich vor dem Schneiden fürchtete. Der Arzt ärgerte sich so darüber, daß er gar nicht mehr an sein Bein gehen mochte. Da ging ich einmal während der Mittagsstunden zu ihm und redete ihm so lange zu – mit meinen paar Brocken Tschechisch und in Zeichensprache – bis er sich zur Inzision bereit erklärte. Vor der Visite stellte ich neben dem Bett alles Notwendige zurecht. Die Schwestern zuckten die Achseln; sie waren überzeugt, daß Dr. Pick sich weigern werde. Als er kam und wie gewöhnlich fragte, ob es etwas Besonderes gäbe, sagte ich ruhig, es sei eine Inzision zu machen. Er ging an die Arbeit, ohne ein Wort zu verlieren, und der gute Wessely war von seiner Qual befreit. („Wessely“ und „Sumtery“ - Fröhlich und Traurig - waren häufig vertretene Namen).

Manchmal kam ein Feldgeistlicher in Uniform in den Saal und ging durch die Reihen. Ich muß sagen, daß er wenig vertrauenerweckend aussah; ich habe auch nicht bemerkt, daß er sich längere Zeit bei jemanden aufgehalten hätte. Nie habe ich es erlebt, daß einem Kranken die hl. Kommunion gebracht oder die hl. Ölung gespendet wurde. Leider war ich so völlig unwissend in diesen Dingen, daß es mir gar nicht einfiel, danach zu fragen oder dafür zu sorgen.

Ein anderer Gast, der bisweilen kam, war der Oberleutnant, dem die Militärkanzlei unterstand. Er war immer überaus höflich und schärfte den Leuten ein, sie hätten den Schwestern zu gehorchen wie ihm selbst. Nötiger als bei den Patienten war das bei den Landsturmleuten, die wir zur Hilfe hatten. Anfangs war ich ganz entsetzt, daß man es Soldaten zumutete, die allerniedrigsten und schmutzigsten Dienste zu tun. Sie lehnten sich nicht offen dagegen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/259&oldid=- (Version vom 31.7.2018)